© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Die Unterwerfung einüben
Kulturelle Identität: Warum die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung eine Fehlbesetzung ist
Thorsten Hinz

Die hysterischen Reaktionen, die auf die Wahlkampfpolemik Alexander Gaulands an die Adresse der Integrationsbeauftragten Aydan Özoguz folgten, haben die Provokation der SPD-Frau, auf die der AfD-Mann reagierte, völlig überdeckt. Özoguz’ Aussage: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“, ist nicht nur dumm, frech und ignorant, sie impliziert auch eine Attacke. Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel mit früheren Äußerungen und dem Amt, das sie bekleidet.

Eine „Integrationsbeauftragte“, die erklärt, daß das Aufnahmeland über keine Kultur verfügt, interpretiert ihren Auftrag unter umgekehrtem Vorzeichen. Indirekt ermuntert sie die Zuwanderer, die im Gegensatz zu den Deutschen über eine eigenständige Kultur verfügen, das Zielland nach ihrem Gusto umzukrempeln. Özoguz’ nachgeschobene Erläuterung, sie hätte nur die mißverständliche „Leitkultur“ zugunsten eines „Gesellschaftsvertrags“ auf der Basis des Grundgesetzes zurückweisen wollen, macht die Sache nicht besser, denn das Grundgesetz entspringt geistigen, kulturellen und rechtlichen Traditionen, die zwar keine deutsche Exklusivität darstellen, aber von Deutschland wesentlich mitgeformt wurden.

Zudem liegt es in der Natur einer Verfassung, daß sie die politischen, rechtlichen und natürlich auch kulturellen Exklusivrechte des Souveräns fixiert und schützt, in dessen Namen sie verkündet wurde. Die Idee eines neuen „Gesellschaftsvertrages“ kann nur den Sinn haben, diese Vorrechte auszuhebeln. Was Özoguz zum sprachlichen Fehlgriff verniedlicht, ist Ausdruck eines Machtanspruchs und eines politischen Konflikts.

Mit ihrem Affront hat sie eine Reihe ähnlicher Äußerungen fortgesetzt und verschärft, aus denen sich eine politische Agenda ablesen läßt. Vor zwei Jahren sandte Aydan Özoguz bei der Vorstellung eines Strategiepapiers zur Einwanderung die Botschaft aus: „Wir stehen vor einem fundamentalen Wandel. Unsere Gesellschaft wird weiter vielfältiger werden, das wird auch anstrengend, mitunter schmerzhaft sein.“ Das Zusammenleben müsse täglich neu ausgehandelt werden. Eine Einwanderungsgesellschaft bedeute, „daß sich nicht nur die Menschen, die zu uns kommen, integrieren müssen“. 

Bemerkenswert ist das Wort „fundamental“. Damit wird gesagt, daß die (Bio-)Deutschen eine grundsätzliche, umstürzende Veränderung ihrer kollektiven, staatlichen, gesellschaftlichen Existenz als Naturgesetz hinzunehmen und sich in eine „anstrengende, mitunter schmerzhafte“ Stellung als Beutegesellschaft zu fügen haben. Denn darauf läuft es in der Praxis hinaus. Zum einen müssen sie milliardenschwere Sozialtransfers für fremde Kulturträger schultern und zum andern die Probleme und Konflikte, die diese ins Land tragen – Kriminalität und Terrorismus inklusive –, als die eigenen akzeptieren und für die Folgekosten einstehen, anstatt sie präventiv auszusperren.

Das Verb „aushandeln“ macht die Sache noch bedrohlicher, denn der säkulare Rechtsstaat stellt nicht mehr die unverhandelbare normative Basis des Diskurses dar, sondern wird selber zum Verhandlungsgegenstand. Die Vorschlage von Frau Özoguz sind jedenfalls eindeutig. Sie verlangt unter anderem das Wahlrecht für Migranten auch ohne deutschen Paß, sie tritt gegen ein „pauschales Verbot von Ehen von Minderjährigen“ ein und fordert, bei der Verfolgung gewaltbereiter Islamisten „Augenmaß“ walten zu lassen.

Keinerlei Aushandlungsbedarf besteht offenbar mit den in Deutschland lebenden Amerikanern, Franzosen, Polen oder Vietnamesen. Es geht um die Legalisierung und Implementierung sozialer Techniken aus vormodernen Kulturen und Religionen, die konträr zum Grundgesetz, den kulturellen Beständen, dem symbolischen Bezugsrahmen und der tradierten Lebenswelt in Deutschland stehen. Die Forderung nach gesellschaftlicher „Teilhabe“ und nach „interkultureller Öffnung“ von Institutionen und Organisationen zielt auf die unverdiente Privilegierung von Parallelgesellschaften und einen Niveauverlust von öffentlichen und privaten Dienstleistungen.

Sie bedeutet auch die weitere Entmündigung des Bürgers, der täglich arbeitet, Kinder erzieht, Steuern zahlt, sich um die Belange der Nachbarschaft kümmert und der ein Familienleben und private Hobbys pflegen möchte. Weder hat er ein Interesse daran, seine Sicherheiten und Gewißheiten der Disposition von Lobbyvertretern zu unterwerfen, noch verfügt er über die Zeit und Energie, die Grundlagen seines privaten und beruflichen Lebens täglich neu zu diskutieren.

Das Aushandeln fällt in der Tat einer Schamanen-Kaste aus Journalisten, Migrationsforschern, Soziologen, Ausländerbeauftragten, Verbandsvertretern und anderen „Experten“ zu, die das Publikum mit der sophistischen Rhetorik von einer „postmigrantischen Gesellschaft“ verblüffen und seine Sprachlosigkeit nutzen, um Herrschaftsrollen einzunehmen. Ihre Vision lautet sinngemäß: Die Zugewanderten dürfen unter Berufung auf Minderheitenrechte und Antidiskriminierung auf ihrer kulturellen und religiösen Identität bestehen, während die Autochthonen ihre Rechte und Gewohnheiten zurückzunehmen haben. Ihr seid nichts, und was aus euch wird, bestimmen andere! Hat diese Lesart sich erst einmal durchgesetzt, steht die autochthone Mehrheit atomisiert und handlungsunfähig den identitätsbewußten, höchst entschlossenen Minderheiten gegenüber, was vor dem Hintergrund der anhaltenden Masseneinwanderung dystopische Perspektiven eröffnet.

In der Schamanen-Kaste finden herkunftsorientierte Lobbyisten wie Frau Özoguz mit intellektuellen Illusionisten zusammen. Der Zeit-Redakteur Jens Jessen schrieb jüngst: „Deutschland internationalisiert sich – willentlich durch seine Wirtschaft, unwillentlich durch Zuwanderung –, und diese Internationalisierung hat ihren Preis.“ In einer globalisierten Welt „wenigstens kulturell auszuschließen, was ökonomisch nicht in die Schranken zu weisen ist“, sei das Anliegen alteuropäischer Nostalgiker, der Ungebildeten, der Furchtsamen und „rechtsradikaler, halbfaschistischer Gruppierungen“, die sich „identitär“ nennen. Damit auch der letzte Leser begreift, was von denen zu halten ist, lautet die Überschrift: „Armes deutsches Würstchen“(Die Zeit vom 7. September).

So wird im Gestus der Überlegenheit die Unterwerfung eingeübt, die die eigene Herrschaftsrolle über die Zeit retten soll. Zwischen der ökonomischen Globalisierung und der Türöffnung für den Bevölkerungsüberschuß („Youth bulge“) aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten besteht keine Kausalität und nicht einmal eine zwingende Korrelation. Die stellt sich erst her, wenn man Politik durch apolitische Hypermoral ersetzt. Typischerweise kommt bei Jessen die Politik als eigenständiger Faktor neben der Ökonomie und Kultur so gut wie gar nicht vor.

Die Kultur ist weder ein Luftschutzbunker noch eine letzte Spielwiese, sondern ein Feld der Selbstreflexion und Selbstvergewisserung, die dem politischen Dezisionismus, den die Europäer nötig haben, vorausgehen. Die Tatsache, daß Deutschland ein säkularer Staat ist, läßt das Kreuz auf der künftigen Berliner Schloßkuppel zu keinem überholten Relikt werden. Es ist ein kulturelles Symbol, das doppelt zählt, wenn in deutschen Städten ein massenhaftes muslimisches Kampfbeten den öffentlichen Raum in Besitz nimmt. Die Kulturrelativierer sollten sich klarmachen, daß überall, wo der Islam in der Geschichte als herrschende Religion Platz griff, es bald keine Volksversammlungen und sich selbst verwaltende Bürgerschaft mehr gab und das öffentliche Leben zum Erliegen kam. Es geht um die Macht zur Selbstbehauptung.

Nun findet auch jenseits administrativer Gewaltakte und medialer Manipulationen eine Relativierung der kulturellen Selbstbilder und die Pluralisierung der Lebensentwürfe statt. Einflüsse der Globalisierung können den eigenen Bezugsrahmen erweitern – schließlich ist die Kultur nie etwas Starres gewesen. Die US-Trickfilm-Serie „Die Simpsons“ beispielsweise übertrifft locker den Unterhaltungs- und analytischen Wert der meisten deutschen Problemfilme. Entscheidend war und ist, daß kulturelle Novitäten aus kompatiblen Kulturen kommen oder aber quantitativ nicht überhandnehmen.

Problematisch wird es, wenn Lieschen Müller mit der Eine-Welt-Ideologie Ernst macht und beginnt, sich über ihre Herkunftsidentität erhaben zu fühlen und als Weltbürgerin aufzuführen. Am Ende stehen rührende Illustrierten-Geschichten von Frauen, die ihre multikulturellen Lebensentwürfe gegen nationalistische Spießer verteidigt haben und sich, nachdem sie abserviert worden sind, schutzsuchend in die Arme des spießerfinanzierten Sozialstaats werfen. Ergreift dieses Syndrom die Politik, stehen der Rechts- und Sozialstaat auf dem Spiel.

Wann hätten die Migrations-Schamanen, die einen wie die anderen, je eine klare Lageanalyse, eine unverfälschte Bilanz, eine belastbare Prognose vorgelegt? Ihr Begriffs- und Theorieschrott ist tatsächlich einfach nur – entsorgungsreif!