© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Einen kleinen Winkel der Welt in Ordnung bringen
Ihre Weltsicht ist eine zutiefst konservative: Zur Erinnerung an die englische Kriminal-Schriftstellerin Agatha Christie
Michael Walker

Herbstzeit ist Lesezeit, und Krimis sind immer wieder eine beliebte Lektüre. Aktuell sind vor allem Thriller aus dem skandinavischen und anglo-amerikanischen Sprachraum angesagt, die sich durch ihre grausamen Handlungen und zynisch-pessimistische Weltsicht auszeichnen. Eine Schriftstellerin jedoch wird auch weiterhin eine Generation neuer Leser nach der anderen begeistern, wenn die Henning Mankells und Stieg Larssons längst aus den Bestsellerlisten verschwunden sind: die „Königin des Krimis“ Agatha Christie, Erfinderin der Amateurdetektive Miss Marple und Hercule Poirot. Ihr erstes Buch „Das fehlende Glied in der Kette“ erschien 1920 (auf deutsch erstmals 1929), ihr letztes „Ruhe unsanft“ im Jahr ihres Todes 1976 (dt. 1977). Mit insgesamt zwei Milliarden verkauften Exemplaren ist sie im Guinness-Buch der Rekorde als kommerziell erfolgreichste Schriftstellerin aller Zeiten aufgeführt. 

Dieser Erfolg beruht nicht zuletzt darauf, daß ihre Bücher bei den verschiedensten Leserschichten gleichermaßen gut ankommen. Ihre Romane verbinden ein flottes Erzähltempo mit zahlreichen Anspielungen, deren Verständnis einen gehobenen Bildungsstand erfordert. Sie behandeln universelle Themen vor einer konkreten historisch-sozialen Kulisse. Ihre Figuren sind keine bloßen Stereotypen; sie sind Archetypen: der lächelnde Übeltäter, die geheimnisvolle Jugendliche, der reumütige Oberst, der rücksichtslose Abenteurer, der skrupellose Arzt, der Scharlatan, der Spion, die alternde Witwe ...

Ihre Geschichten spielen im 20. Jahrhundert an – im weitesten Sinne – englischen Schauplätzen; die Werte, die darin zum Ausdruck kommen, sind zeitlos und kulturübergreifend. Zudem spielen die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit eine Rolle: der Niedergang der aristokratischen Oberklasse in der Folge des Ersten Weltkriegs, der staatsgläubige Sozialismus des verarmenden Großbritannien in der Folge des Zweiten. 

Christies Romane sprechen unsere Sehnsucht nach einer wohlgeordneten und berechenbaren Welt an, in der die Kräfte des Guten triumphieren, nachdem das Rätsel gelöst ist. Miss Marple und Monsieur Poirot können nicht die ganze Welt ins Lot rücken, aber indem sie dafür sorgen, daß die Wahrheit ans Licht kommt, bringen sie einen kleinen Winkel dieser Welt in Ordnung, damit alles wieder mit rechten Dingen zugeht. Beiden Detektiven geht es um mehr als darum, Gerechtigkeit walten zu lassen: den Mörder daran zu hindern, weitere Morde zu begehen.

Verfilmungen fürs Fernsehen und Kino

Die theatralische Enthüllungsszene am Ende jedes Romans ist zugleich eine Entlarvung des Bösen. „Jeder hat etwas zu verbergen“, stellt Poirot in „Alibi“ (1926, dt. 1928) fest, und tatsächlich vermag keiner der Anwesenden ihm ins Gesicht zu sehen. So vergeßlich Miss Marple sich manchmal gibt, zeichnen sich beide Detektive durch die Systematik ihrer Gedankengänge und Schlußfolgerungen aus. 

Die Geschichten, die sie in ihren Romanen erzählt, folgen quasi dem Muster einer Fuchsjagd. Ein Mord wird begangen, und der Leser verfolgt die Spur des Täters wie die Hundemeute, bis er auf den letzten Seiten gestellt wird. Christies dramatischer Schreibstil prädestinierte ihre Romane geradezu zur Verfilmung für Fernsehen und Kino. An den starken Persönlichkeiten ihrer Hauptfiguren haben sich die unterschiedlichsten Schauspieler mit sehr verschiedenen Interpretationen abgearbeitet: von Margaret Rutherford als beleibte, aber rüstige und humorvolle ältere Dame bis hin zu Joan Hickson (Agatha Christies bevorzugte Miss-Marple-Darstellerin) als gestrenge und penible Schulmeisterin; von David Suchet über Albert Finney bis hin zu Peter Ustinov in der Rolle des Poirot. 

Gerechtigkeit in Christies Romanen bedeutet die Entdeckung der Wahrheit durch die rationale Betätigung der „kleinen grauen Zellen“, wie Poirot – in dieser Hinsicht der Erbe des Sherlock Holmes –  sie nennt. Der Anschein trügt. Dies ist von dem jeweiligen Übeltäter so beabsichtigt, und wer seine Identität erraten will, überlegt sich am besten, welche Figur auf den ersten Blick am wenigsten als Mörder in Frage kommt. In „Zehn kleine Negerlein“ (1939, dt.  1944) erhalten zehn Schuldige, die aus Mangel an Beweisen den Fängen der Justiz entkamen, eine mysteriöse Einladung auf eine Insel, wo ihnen für ihre Schuld am Tod eines anderen Menschen doch noch Gerechtigkeit widerfährt. 

Christies Romane sind mit Traurigkeit durchtränkt. Dies ist nicht die Trostlosigkeit von Georges Simenons Maigret-Romanen, sondern ein Trauern um verkümmertes Wachstum und verpaßte Chancen, um Leben, die durch Verbitterung, Neid und moralische Korruption verdorben sind: John Christow, der in „Das Eulenhaus“ (1946, dt. 1947) einem Mord zum Opfer fällt, bevor er seine wissenschaftliche Erforschung einer tödlichen Krankheit zum erfolgreichen Abschluß bringen kann; der Mann, der den Liebhaber seiner Frau getötet und doch keinen Frieden gefunden hat; die Kindesmörderin, die ihre Tat nie wieder gutmachen kann; der egoistische Patzer, der in „Mord im Spiegel“ (1962, dt. 1964) ein tragisches Ende heraufbeschwört … 

Ehrfurcht vor der sittlichen Ordnung

Christies Weltsicht ist eine zutiefst konservative: Nicht die Kultur, sondern die Natur macht uns zu den Menschen, die wir sind. Den Errungenschaften des technischen Fortschritts begegnet sie mit Mißtrauen. Dagegen spricht aus ihren Romanen eine tiefe Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben und der sittlichen Ordnung. Der Mangel an ebendieser Ehrfurcht macht Menschen zu Mördern. Auch einer libertär-egoistischen Weltsicht, wie sie in den Werken von Nietzsche oder Ayn Rand zum Ausdruck kommt, steht dieser Konservatismus eher negativ gegenüber. 

Neben dem Allzu-Menschlichen spielen auch übernatürliche Elemente in Christies Romanen eine gewisse Rolle: Vorahnungen der Zukunft ebenso wie Heimsuchungen aus der Vergangenheit. Viele Titel spielen auf englische Kinderreime an und lösen damit bei älteren englischen Lesern eine Mischung aus Nostalgie und unheimlichem Schaudern aus, die für jüngere Generationen sowie bei der Übersetzung in andere Sprachen verlorengeht – oder gar, wie im Fall von „Zehn kleine Negerlein“, der PC-Zensur zum Opfer fällt. 

Agatha Christie spricht oft von „Minuten“, wenn sie „Momente“ meint. Womöglich ist dieser Sprachgebrauch dem Bewußtsein geschuldet, daß ihr Erzähltempo dem Leser wenig Zeit läßt, die Indizien wahrzunehmen, die sie ihm einen flüchtigen Augenblick lang hinhält. Das Gewicht der Vergangenheit lastet schwer auf der Gegenwart. Noch vor nicht allzu langer Zeit sah England dem Schauplatz dieser packenden Geschichten ähnlich, deren Figuren alles andere als perfekt, von Snobismus und Trauer gezeichnet, aber dabei unverkennbar englisch sind. Jenes England und jene Archetypen faszinieren bis heute Millionen von Lesern weltweit.