© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

„Auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko“
Unabhängigkeitsreferendum I: Katalanen stimmen für Unabhängigkeit von Spanien / Größte Krise seit dem Ende der Franco-Diktatur
Michael Ludwig

Der spanische Premier Mariano Rajoy Brey und sein katalanischer Amtskollege Carles Puigdemont i Casamajó haben sich in eine politische Sackgasse manövriert, aus der es nur sehr schwer einen Ausweg geben dürfte. Am Sonntag haben sich knapp 90 Prozent der katalanischen Wähler in einem Referendum, das vom Madrider Verfassungsgericht als illegal verworfen wurde, dafür ausgesprochen, das spanische Königreich zu verlassen. Die Wahlbeteiligung betrug nur 42 Prozent. Puigdemont hat dennoch angekündigt, „innerhalb der nächsten Tage“ die Unabhängigkeit auszurufen.

Gewerkschaften rufen zu Arbeitsniederlegungen auf

Nun ist guter Rat teuer, wie die spanische Innenpolitik ihre bislang größte Krise seit dem Ende der Franco-Diktatur vor 41 Jahren meistern will. Hinzu kommt, daß Madrid mit einem unverhältnismäßig harten Polizeieinsatz derart viel politisches Porzellan zerschlagen hat, daß eine Verständigung mit der Provinz im Nordosten so gut wie ausgeschlossen scheint. Die Bilder, die am Wahltag über die Bildschirme flimmerten, haben es in sich – Policía Nacional und Guardia Civil bahnten sich mit Schlagstöcken und Gummigeschossen ihren Weg zu den Wahllokalen.Bürger wurden zu Boden gerissen und fortgeschleift. Es wurde mit allen Mitteln versucht, die verbotene Stimmabgabe zu verhindern. Die Bilanz: rund 840 Verletzte. Auch wenn die meisten nur Prellungen erlitten, wird so verhindert, daß das Geschehen, das ganz Katalonien geschockt hat, bagatellisiert werden kann.

Bislang hatte Rajoys konservative Minderheitsregierung bei der brisanten Frage, ob man Katalonien aus dem spanischen Staatsverband entlassen könne, die wichtigsten Oppositionsparteien, die sozialistische PSOE und die liberale Ciudadanos, hinter sich. Doch nun äußerte sich PSOE-Generalsekretär Pedro Sánchez besorgt über das Bild von „Schande und Traurigkeit“, das Spanien geboten habe. Auch in den Ciudadanos-Reihen zeigte man Unverständnis über den Knüppeleinsatz und Gummigeschossen auf wahlbereite Bürger. Demgegenüber bezeichnete die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Sáenz de Santamaría das Vorgehen der Polizei als „angemessen und professionell“.

Für die Zentralregierung ist das Referendum nicht bindend, da es gegen die geltende Verfassung verstoße. Rajoy kündigte gleichzeitig eine Sondersitzung des Parlaments an, um zu verhindern, daß die katalanische Krise vollends aus dem Ruder läuft. Doch nach wie vor ist Madrid nur zu Verhandlungen bereit, wenn sie innerhalb der geltenden Gesetze stattfinden – und die gestatten eine Sezession nicht. Barcelona ist aber fest dazu entschlossen, seinen Weg zu Ende zu gehen. „Wir haben das Recht gewonnen, einen unabhängigen Staat zu haben“, betonte Puigdemont. Das klingt nicht nach Dialogbereitschaft.

Unterdessen haben Gewerkschaften und zahlreiche andere Organisationen für Dienstag zu einem Generalstreik aufgerufen, um gegen die „schwere Verletzung von Rechten und Freiheiten“, die den Katalanen während des Referendums widerfahren sei, zu protestieren. Die auf Katalonien beschränkten Streiks wurden von den einflußreichen Gewerkschaften UGT und CCOO initiiert.

Noch Ende vergangener Woche hatte es im Konflikt um die Sezession der reichen und selbstbewußten Provinz für die Zentralregierung ganz gut ausgesehen. Die letzten Meinungsumfragen ergaben, daß lediglich zwischen 41 und 45 Prozent der in Katalonien ansässigen Wahlberechtigten einen eigenen Staat wünschten. Fast alle überregionalen Zeitungen des Landes schlugen sich auf die Seite Madrids. Unter der Überschrift „Politischer Karneval in Katalonien“ schrieb der Herausgeber von El País, Juan Luis Cebrián: „Die katalanische Regierung hat auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko, in aufrührerischer Art, die Emotionen und die Leidenschaften der Öffentlichkeit aufpeitschend, eine Legalität geschaffen, die konträr zum spanischen Staat steht.“

Warnung vor „reaktionärer und barbarischer Ideologie“

Der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, der einen großen Teil des Jahres in Spanien verbringt, sekundierte ihm: „Die Unabhängigkeit Kataloniens wäre für Spanien, aber vor allem auch für Katalonien tragisch. Katalonien würde in die Hände einer reaktionären und barbarischen Ideologie und in die von Demagogen fallen, die es an die Wand fahren.“

Zunächst versuchte es die Zentralregierung mit Nadelstichen: Häuser und Büros wurden nach belastendem Material für das Referendum durchsucht, man beschlagnahmte Millionen von Stimmzetteln, legte Internetverbindungen lahm, warnte Bürgermeister und Schuldirektoren davor, ihre Gebäude für die Abstimmung zur Verfügung zu stellen. Die Rechnung schien aufzugehen – doch die Regierung in Barcelona wich keinen Schritt, im Gegenteil: Bei jeder Gelegenheit gaben Regierungschef Puigdemont und sein Stellvertreter Oriol Junqueras i Vies zu verstehen, nichts und niemand könne sie stoppen.

Der Tag des Referendums begann zunächst weitgehend friedlich. In den Schulen hatten sich Eltern und ihre Kinder einquartiert, um sie am nächsten Tag für die Wähler zu öffnen. „Im öffentlichen Raum wehte ein fröhlicher Wind, als wäre man in Rio de Janeiro“, schrieb Cebrián noch am Vortag. Doch die katalanische Regionalpolizei, die Mossos d’Esquadra, kam der richterlichen Anordnung, die öffentlichen Gebäude abzuriegeln und unerreichbar für eine Stimmabgabe zu machen, nicht nach. Sie verhielt sich passiv, was ihr die Sympathie der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung einbrachte – sie empfing sie mit Applaus und Blumen.

Als die Guardia Civil das zu Ende führte, was die Mossos so gut wie gar nicht leisteten, nämlich den Urnengang zu verhindern und die Stimmzettel einzusammeln, geriet die Situation zunehmend außer Kontrolle. Der FC Barcelona trug aus Protest gegen den Polizeieinsatz das Heimspiel gegen Las Palmas vor leeren Rängen aus. Puigdemont nannte das polizeiliche Vorgehen „ungerechtfertigt, irrational und unverantwortlich“. Doch nicht überall ereigneten sich tumultuarische Szenen, überwiegend blieb es zwar spannungsgeladen, aber friedlich. Nach Angaben der katalanischen Regierung ist in 96 Prozent der insgesamt 3.215 Wahllokale die Stimm­abgabe ohne Zwischenfälle verlaufen.

Dennoch bleibt das Referendum nicht nur rechtlich, sondern auch formal angreifbar – da nicht alle Wahllokale geöffnet waren, durfte man in jedem anderen seine Stimme abgeben. Damit bestand die Möglichkeit, mehrmals zu wählen. Da nicht genügend Umschläge zur Verfügung standen, mußten die Stimmzettel gefaltet in die Urnen geworfen werden; damit war die Wahl faktisch nicht mehr geheim. Nachdem die Behörden teilweise die Internetverbindungen gekappt hatten, kam es zu massiven Computerproblemen. Wahlhelfer hatten keinen Zugang mehr zu Wahllisten, so daß nicht mehr überprüft werden konnte, ob Wähler ihre Stimme bereits abgegeben hatten. Madrid hält das Ergebnis des Referendums deshalb für nicht ernst zu nehmen – ein weiterer Grund für die Ungültigkeit. Am Sonntag habe „kein Referendum stattgefunden, sondern eine Inszenierung“, sagte Rajoy auf einer Pressekonferenz.

Vertretung der Regierung von Katalonien in Deutschland:  deutschland.gencat.cat

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