© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

„Gegenwärtig alles andere als realistisch“
Im publizistischen und akademischen Heerlager der Heiligen: Propagandisten der freizügigen Globalisierung mit Wahrnehmungsdefizit
Wolfgang Müller

Jens Jessen – nordischer als der Zeit-Feuilletonist dieses markigen Namens heißt wohl nur Hauke Haien, der „Schimmelreiter“. Doch „Trutz Blanke Hans“-Aura, Erdgeruch, Bodenständigkeit, Heimat wären so ziemlich das Allerletzte, womit der linksliberale Jessen sich identifizieren würde. Überhaupt wirkt „Identität“ auf den 62jährigen Enkel des gleichnamigen Nordschleswiger Nationalsozialisten, der sein Leben schließlich im konservativen Widerstand des 20. Juli gegen Adolf Hitler verlor, wie ein grellrotes Tuch. Was durchaus symptomatisch ist für diese dem trendigen „Schuldkult“ verhaftete Alterskohorte.

Ähnlich wie einst der Präsident der Reichsschrifttumskammer, SS-Gruppenführer Hanns Johst, der damit prahlte, beim Wort „Kultur“ lade er durch, so entsichert Jessen vermutlich seinen Revolver, wenn von „Identität“ die Rede ist. Jedenfalls schürt sein jüngster Zeit-Artikel über „Arme deutsche Würstchen“ (Ausgabe vom 7. September 2017) einen solchen Verdacht. Mit einem beinahe amüsiert scheinenden Fatalismus stellt er fest, daß „die Globalisierung alle nationalen Traditionen erschüttert“. Und allen „Rückwärtsgewandten“, auf „Wiedergewinnung der Nation als Heimat“ Fixierten, wünscht er, sie mögen im „egalisierenden Treibsand der Globalisierung“ versinken, der „Weltmarktkonkurrenz“ zum Opfer fallen, die ihre Arbeitsplätze vernichte und „Flüchtlinge“ bis zum Abwinken einspüle, so lange, bis diese „Identitären nichts mehr zu lachen und mitreden haben“, so lange, bis sie sich als „Emigranten im eigenen, über Nacht radikal veränderten Land fühlen“. 

Von dieser im Brutalo-Slang des Selbsthasses formulierten Rhetorik könnte, wenn er denn wollte, auch Alexander Gauland noch einiges lernen, um es nicht bei einer mickrigen „Entsorgungs“-Metapher zu belassen, wenn es wieder einmal nötig ist, eine türkischstämmige SPD-Politikerin aufzufordern, die zu ihr passende Kultur fortan lieber in Anatolien auszuhandeln.

Globalisierung wird als „alternativlos“ propagiert

Nun könnte man das „arme Würstchen“ Jessen eigentlich ignorieren. Wenn seine im Stile eines „guten Hassers“ geschriebene ersatzreligiöse Anbetung des großen Bruders „Globalisierung“, der ihm helfen soll, „den Lasten deutscher Identität zu entkommen“, nicht einen kollektiven Wahn indizierte, der zwar erst im Sommer 2015 pandemisch ausbrach, aber schon lange als kosmopolitische Grundemotion das gemeingefährlich falsche Bewußtsein der westeuropäischen „Eliten“ bestimmt. Untrügliches Symptom ist deren Art, über Globalisierung zu sprechen, die ein historisch konkretes, sozioökonomisches Phänomen mitsamt seinen Begleiterscheinungen wie globale Umwelt- und Heimatzerstörung als unaufhaltbares Schicksal ontologisiert. Darum lautet die Parole regelmäßig „Die Globalisierung ist alternativlos“ (WZB Mitteilungen, 157/2017). Für Michael Zürn, der kein Klingelsignal mehr benötigt, um solchen Sermon abzusondern, gilt das sogar im handfest existentiellen Sinn, denn sein akademisches Dasein gründet der Berliner Politologe seit 25 Jahren auf die Lehre von der „Global Governance“. Dabei hat, neben Habermasens Diskurs-Eiapopeia und dem zivilisationsfernen Gender-Voodoo, nichts so sehr zur Marginalisierung und „Degenerierung“ (Carlo Masala) der Politischen Wissenschaft beigetragen wie die nicht zufällig mit Brüsseler und Berliner Fördergeldern gepamperte Global Governance-Mode. 

Diese kreiere unter dem Banner des „Postnationalismus“ ohnehin nur eine „illusionäre Entpolitisierung von Politik“, ohne angesichts des UN- und EU-Versagens bei internationalen Dauerkrisen und -konflikten zu begreifen, daß die Nationalstaaten „die zentralen Akteure der Weltpolitik und die soziale Identifikationsgrundlage der jeweiligen Gesellschaften geblieben“ sind, wie es der Politikwissenschaftler Maximilian Terhalle auf den Punkt brachte („Warum das Governance-Axiom gescheitert ist – eine notwendige Kritik“, Zeitschrift für Politik 62/2015). Zürn, auch schon vor Terhalles vernichtender Kritik selbst unter den intellektuell nicht sehr anspruchsvollen Zunftgenossen eine blasse Figur, fährt indes ungerührt fort, am Schleier des Verblendungszusammenhangs zu weben und seine „alternativlose“ Globalisierung mit „liberaler Ordnung, Menschenrechten, offenen Grenzen und der Bedeutung internationaler Institutionen“ gleichzusetzen, um dieses imaginierte Gute gegen „rechtspopulistische Bewegungen“ zu verteidigen.

Wie die „Akzeptanz für so offenkundig hirnrissige Vorstellungen“ (Wolfgang Röhl) wie jene, durch massenhaften Import kulturfremder Analphabeten ein „zweites deutsches Wirtschaftswunder“ (Dieter Zetsche, Daimler AG) bewirken zu können, zu erklären ist, dazu bedürfte es sicher erheblicher sozialpsychologischer Zurüstungen. Forschungen, die eine jedermann mögliche Alltagsbeobachtung in der Regel nicht falsifizieren dürften, sind die gerade unter „denkenden Menschen“, Sozial- und Kulturwissenschaftlern – von Medienfuzzis und Politikern ganz zu schweigen – weitverbreitet und dokumentieren eine verblüffende Unfähigkeit, einen Sachverhalt auch nur halbwegs genau zu erfassen.          

Diesen traurigen Verlust des Wirklichkeitssinns bestätigt fast jeder Blick in ein wissenschaftliches Journal. Zum Beispiel der in die Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, die das aktuelle Heft (2/2017) dem Schwerpunkt „Philosophie und Globalisierung“ widmet. Die als bekennende „Feministin und Antifaschistin“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft alimentierte Stefania Maffeis (FU Berlin) hat diese Ausgabe verantwortet. Über ihre Wahrnehmungsschwäche läßt die unglücklich in Hannah Arendt verliebte Wissenschaftliche Mitarbeiterin den Leser dann auch nicht im unklaren. „Tausende Menschen“ – nicht ein paar mehr? – seien 2015 aus „Syrien, Eritrea und anderen Krisengebieten“ – und nicht etwa aus Ghana, Marokko, Algerien? – vor „Krieg und Terror“ – nicht vor der wirtschaftlichen Misere im globalen Süden? – geflohen und hätten „kurzfristig in Deutschland“ – nicht im deutschen Sozialsystem und dauerhaft? – „Einlaß“ gefunden. 

Leider, so jammert die derart kläglich schon an der Beschreibung der Realität der „Flüchtlingskrise“ scheiternde Maffeis, habe man die „Expertise“ dieser „migrantischen Subjekte“ bisher nicht genutzt, um einen Bewußtseinswandel hin zu einem „transnationalen Verständnis von Staatsbürgerschaft und Demokratie“ anzustoßen und die „Legitimität von nationalen Grenzen zu überdenken“, sondern verharre verstockt in der „nationalstaatszentrierten Position“.  

Zugeständnisse, daß kein „globaler Demos“ existiert

Dieser Phrasendrescherei folgen alle Beiträger, um munter gegen Hegels erstes Gebot zu verstoßen: Die Philosophie hat die Aufgabe, zu erkennen, was ist. Skrupel kennen Maffeis’ Textlieferanten eher selten. Immerhin erinnert sich der an der University of California, unweit vom Silicon Valley, einem der Sturmzentren der Globalisierung, lehrende französische, halb und halb zum neoliberalen Multikulturalismus konvertierte Alt-Marxist Ètienne Balibar daran, daß es „keinen globalen Demos“ gebe und es ihn auch nie geben werde. Und die in Innsbruck lehrende indische Politologin und Genderforscherin Nikita Dhawan, die unentwegt gegen „sexistische und rassistische Gewalt der europäischen Aufklärung“ vom Leder zieht, wagt es doch, gleichgesinnte Vorbeller der Globalisierungsideologie vor der naiven „Exotisierung“ nichteuropäischer Kulturen zu warnen. Das widerspreche nicht nur dem universalistischen Selbstverständnis, es ignoriere auch, daß etwa die präkoloniale indische Kastenordnung nebst Frauenunterdrückung nichts mit der „epistemischen Gewalt“ des europäischen Imperialismus zu tun habe.

Ein bißchen ist auch bei Micha Brumlik die Luft aus der kosmopolitischen Euphorie raus (Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/2017). Weiterhin gelten die Sympathien des emeritierten Frankfurter Pädagogen zwar „globale Bewegungsfreiheit“ einfordernden Extremisten wie Seyla Behabib, Joseph H. Carens und Andreas Cassee, die im Interesse des internationalen Finanzkapitalismus ein „Niederlassungsrecht für alle Menschen an allen Orten der Erde“ propagieren. Um zugleich aber zu konzedieren: ein Weltbürgerrecht durchsetzen zu wollen, „erscheint gegenwärtig alles andere als realistisch“. 

Ein Zugeständnis, das ihm noch leichter fiele, wenn er den Kronzeugen seines Kosmopolitismus, den bodenständigen Ostpreußen Immanuel Kant, nur genauer gelesen hätte. Der wollte Fremden, nur vernünftigen Europäern selbstverständlich, lediglich ein Gastrecht einräumen und trat entschieden gegen „Rassenvermischung“ auf, weil er die Vielfalt der Kulturen nicht zugunsten universeller Uniformität planieren lassen wollte. Von Nikita Dhawan, die ihren Kant insoweit richtig verstanden hat, darf sich Brumlik einmal darüber aufklären lassen, daß sich in dieser Ablehnung von One World eine „zutiefst rassistische Ideologie“ artikuliere.