© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Wenn die Realität nicht in das System paßt
Eine Untersuchung zur Praxis gleichheitsorientierter Politik im kubanischen Sozialismus
Paul Leonhard

Was passiert, wenn ein Staat der Gleichheit das Primat vor der Freiheit einräumt? Armut für alle, könnte im Fall von Kuba die Antwort lauten. Tatsächlich kam die sozialistische Insel dieser Definition nie so nahe wie zu Beginn der von Revolutionsführer Fidel Castro 1989/90 ausgerufenen „Spezialperiode in Friedenszeiten“, als es selbst für Besitzer von ausländischen Devisen auf der Insel kaum etwas zu kaufen gab. Dem zwei Jahrzehnte parasitär lebenden Karibikstaat brach nämlich damals die wirtschaftliche Substanz weg, weil die abgewirtschafteten sozialistischen Staaten in Europa ihn nicht mehr unterstützten. Einziger Ausweg aus der Krise waren seinerzeit zwei staatliche Maßnahmen, die seitdem den Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung unterlaufen: die Freigabe des Dollars und die Öffnung des Landes für Devisen ins Land bringende Touristen.

Die kubanische Verfassung bekennt sich zu sozialistischen Verteilungs- und Gerechtigkeitsprinzipen nach der Maxime „jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Leistung“. Ob und wie dieses Versprechen in der Realtität eingelöst werden kann, hat Larissa Borkowski in ihrer in der Nomos-Verlagsgesellschaft unter dem Titel „Castros Erbe“ erschienenen Dissertation „Zur Praxis gleichheitsorientierter Politik im kubanischen Sozialismus“ untersucht.

Das kubanische System ist darauf ausgelegt, daß die Mittel zur Befriedigung der meisten Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen, Strom, Wasser, Gas, Gesundheit und Bildung durch den Staat kostenlos oder zu symbolischen Preisen zur Verfügung gestellt werden. In diesem Verständnis gilt das erarbeitete Geld nur dazu, Luxusbedürfnisse bezahlen zu können. Der Staat erzielt sein Vermögen nicht durch Besteuerung, sondern erwirtschaftet es direkt durch staatliche Betriebe, um es dann in andere Sektoren zu investieren. „Legt man allein die gesetzlichen Regelungen zugrunde, ist das System der sozialen Sicherheit in Kuba sehr umfassend und gewährleistet Versorgung für alle schutzbedürftigen Gruppen“, schreibt die Autorin. Schwierig sei jedoch die „Bewertung der tatsächlichen Leistungsfähigkeit“ des Systems.

In ihrer Arbeit zeigt Borkowski auf, wie die Legalisierung des US-Dollars praktisch zu einer Doppelwirtschaft führte und bis heute für die im Alltag spürbaren Ungleichheiten in der Bevölkerung sorgt. Die Freigabe von Devisen hat zu einer neuen Schicht wohlhabender Kleinunternehmen geführt, die „in gewissem Ausmaß die bisherigen Erfolge der revolutionären Politik im Hinblick auf gesellschaftliche Gleichheit konterkariert“, schreibt die Autorin. Mit starken Regulierungen im Privatbereich versucht der Staat zu verhindern, daß die Einkommensunterschiede zu groß werden. Die Autorin verweist hier beispielsweise auf ein Gesetz, nach dem Kubaner lediglich eine selbstgenutzte Wohnung und gegebenenfalls eine Ferienwohnung besitzen dürfen. Baut ein Wohneigentümer eine neue Wohnung oder ein neues Haus, so ist er verpflichtet, die alte Unterkunft an den Staat zu verkaufen oder an eine andere Person abzutreten. Auch der seit 2011 mögliche Verkauf von Wohnungen sei eine „bewegte Geschichte, die sich zwischen staatlicher Regulierung, Umgehungskreativität in der Bevölkerung und entsprechenden behördlichen Reaktionen“ gestalte.

Die kubanische Verfassung enthält allgemeine und spezielle Gleichheitssätze und regele gleichheitsbezogene Rechte sehr ausführlich. Diese haben jedoch eher proklamatorischen Charakter und sind de facto nicht anwendbar. 

Systematische Inkonsequenz durch die Öffnung Kubas

Die pragmatischen Maßnahmen wie Dollar-Legalisierung und Marktdualismus, Ausweitung von Selbständigkeit und Lohnarbeit würden wie deren gleichheitsorientierte Einhegungen wie Besteuerung und Mindestlohn nicht in das System passen: eine systematische Inkonsequenz, die innerhalb der idealen Systemlogik kubanischer gleichheits-orienter Politik nicht überwunden werden kann. „Dem Eindruck nach ist das kubanische Recht einerseits abgeneigt, überhaupt Rechtsverhältnisse mit Ungleichheitstendenz zuzulassen; andererseits bemüht es sich, so sie dann doch zugelassen werden, mögliche Gewinne abzuschöpfen und zu sozialisieren.“

Da die Fähigkeit oder der Wille des Staates, die Durchsetzung der Normen zu erzwingen, begrenzt erscheint, so die Autorin, sei der Handlungsspielraum für privates Wirtschaften deutlich gewachsen und werde wohl weiter an Bedeutung zunehmen: „Für die Zukunft wird eine stärker an westliche Modelle angelehnte Regulierung erforderlich werden.“

Larissa Borkowski: Castros Erbe. Zur Praxis gleichheitsorientierter Politik im kubanischen Sozialismus. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017, broschiert, 222 Seiten, 44 Euro