© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Harald Martenstein ist einer der charmantesten Querköpfe im Land – eine Institution!
Virtuose der Freiheit
Michael Paulwitz

Ich möchte wieder einmal ein Tabu verletzen.“ In solch einem ersten Satz steckt schon fast der ganze Harald Martenstein: Schlicht, aber elegant; bescheiden, aber direkt; im Plauderton, aber subversiv stellt er scheinbar selbstverständliche Geglaubtheiten in Frage.

Das ist die große Kunst der kleinen Form. Der Kolumnist beherrscht sie in staunenswerter Produktivität und konstanter Virtuosität. Es soll Leute geben, die die Zeit nur abonnieren, um den wöchentlichen „Martenstein“ zu lesen. Im Berliner Tagesspiegel, dessen leitender Redakteur er ist, meldet er sich zudem allsonntäglich zu Wort, und auch als Radiokolumne sind seine Causerien zu hören, die bereits vier Bände füllen. Allerlei Romane und Sachbücher im unverwechselbaren Martenstein-Klang, zuletzt über seine Leidenschaft, das Kino, hat er im Laufe der Jahre ebenfalls verfaßt.

Doch der mal nachdenkliche, mal humorvolle, mal selbstironische, aber immer leise und freundliche Ton täuscht, mit dem Harald Martenstein sich über Gott und die Welt, Abgelegenes und Alltägliches, Privates und Hochpolitisches hermacht. Politische Korrektheit ist seine Sache nicht. „Wenn eine Gruppe sagt, über uns darf man keine Witze machen, Kritik streng verboten, dann ist das ja eine Aufforderung zur Desensibilisierung“, bekennt er. Also bekommen bei ihm dogmatische Linke, islamische Eiferer und verquaste Feministen genauso ihr Fett weg.

Seit er vor ein paar Jahren die „Genderforschung“ als „Antiwissenschaft“ vorgeführt hatte, bläst ihm öfter der Wind ins Gesicht. Die grüne Böll-Stiftung stellte ihn an den Internet-Pranger und denunzierte ihn als „NPD-nah“, der Journalist und Blogger Stefan Niggemeier und die taz verspotteten Martenstein als heterosexuellen, alten weißen Mann, der die Welt nicht mehr verstehe.

Es werde hierzulande mit „Etiketten statt Argumenten“ ein „kafkaeskes Klima der Angst und der Diffamierung“ aufgebaut, diagnostizierte Martenstein jüngst. Daß er trotzdem schreiben darf, was er will, auch wenn die Redaktionen mal „zucken“, verdankt er Prominenz und Stallgeruch; das weiß der 1953 in Mainz geborene Vollblutjournalist, der äußerlich mit Wallehaar, Graubart und Woody-Allen-Brille wie ein Bilderbuch-Altachtundsechziger wirkt, natürlich ganz genau: „Haben die Linken, meine alten Genossen aus der Vergangenheit, denn gar nichts gelernt?“

Wohl nicht. Harald Martenstein dagegen, in den Siebzigern auch mal DKP-Mitglied, ist selbst als jahrelanger bekennender Grün-Wähler Freigeist geblieben. Ob er „wirklich, wirklich, wirklich Autor werden“ wollte, frug er sich einmal: „Oder war ich nur zu feige oder zu faul für etwas anderes?“ Selbst wenn: Gottseidank! Gelobt sei die gelassene Weisheit der unaufgeregten alten weißen Männer. Wir hätten gern mehr davon.