© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn

Big Brother trägt heutzutage „Google Glass“. Allerdings funktioniert die Enttarnung der Stammgäste Michael Kohlhaas (Mads Mikkelsen) und Oskar Matzerath (David Bennent) im Café des West-Sektors auch ohne dieses Instrument. Gleichwohl bleibt die Privatsphäre der Betreffenden davon unberührt. Ganz anders bei mir: Als ich den Gegenüber im Café nach mehrmaligen Begegnungen und Blickkontakten eines Tages endlich frage, ob er jener prominente Politiker sei, der hier um die Ecke wohne, ist er frappiert. Der sei er zwar nicht, allerdings wolle er selbst mich schon seit einiger Zeit fragen, ob ich denn der „Dorn im Auge“ sei. 


Im selben Café fällt mir immer häufiger die ubiquitäre Unsitte des Food Porn ins Auge, welche das Tischgebet abgelöst hat. Statt die Hände vor der Mahlzeit zu falten, greifen die Gäste aus aller Welt zu ihren Smartphones, um das vor ihnen stehende Essen zu fotografieren und die entsprechenden Bilder sodann zu verschicken oder im Netz bei Instagram zu posten. Dies erinnert mich auf einmal an die Praxis der permanenten Kulturrevolution im China Mao Zedongs, als das korrekte politische Bewußtsein in Gaststätten anhand von Fragebögen hergestellt wurde, welche die Restaurantgäste auszufüllen hatten, um ihre Klassenherkunft zu protokollieren. Zwischendurch schneit eine hübsche junge Blondine herein, die gerade aus Hongkong zurück ist und von ihrem wichtigsten Erlebnis berichtet: „Aber Hugh Hefner ist tot! Ich dachte, der ist unsterblich.“


Das Café im sowjetischen Sektor sorgt dagegen allein schon durch seine Lage für entsprechende Gespräche. So antwortet der finnische Stammkunde auf die Frage „Wie war’s in Odessa?“ trefflich: „Das war so Sowjetunion noch.“ Der russische Cafébesitzer schüttelt angesichts der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit der Losung „100 Jahre Kommunismus“ wieder mal energisch seinen Kopf: „Das war aber keine Revolution, das war ein Umsturz“, um gewohnt provokant anzufügen: „Aber wir feiern trotzdem!“ Zwei Seiten weiter findet sich in der Zeitung die Lebensbilanz „Luther light“ des Schriftstellers Günter Franzen. Die Überschrift erinnert mich an das aktuelle Programm der Gethsemanekirche unter der begrifflichen Trias „Lauter / Leiser / Luther.“ Parallel hierzu werden unter der – an den Herbst 1989 angelehnten – Losung „Wachet und betet“ täglich Gebete für die in der Türkei Inhaftierten abgehalten. Da ruft zum wiederholten Mal meine polemische Stimme im Off, die um die Vergeblichkeit ihrer Worte weiß: „Freeze Deniz!“