© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Politische Belehrung
Günter Grass verirrte sich oft in die Agitation
Thorsten Hinz

Friedrich Hölderlins Diktum: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ – für das Engagement von Günter Grass zugunsten der SPD besitzt er keine Gültigkeit. Der Autor der „Blechtrommel“ hatte anläßlich der Bundestagswahl 1965 dem Volk die politische Richtung gewiesen, die er für richtig hielt: „Glaubt dem Kalender, im September / beginnt der Herbst, das Stimmenzählen;/ Ich rat euch, Es-Pe-De zu wählen!“ Nichts davon ist geblieben. Im September 2017 haben sich so wenige Wähler wie nie seit 1945 für den Ratschlag des berühmtesten deutschen Nachkriegsautors interessiert. 

Die zahllosen Verse, Aufsätze, Reden und Interviews, mit denen Grass sich gesinnungsstark, doch meistens inkompetent in die Politik einmischte, gehören nicht zur Dichtung, sondern in den Bereich der Agitation, in die sich Grass immer wieder verirrte. Sein gesinnungsethischer Dilettantismus ging, wie man in den Tagebüchern von Hans Werner Richter nachlesen kann, sogar den gleichgesinnten Kollegen auf die Nerven. 

Politik muß nicht unbedingt den Charakter verderben, die Literatur verdirbt sie auf jeden Fall, wenn der Literat sich ihr verschreibt. Grass-Leser konnten ein Lied davon singen. Erfreuten sie sich eben noch an farbigen Szenen voller barocker Sprachkraft, sauste im nächsten Moment die Keule der politischen Belehrung auf sie herab.

Manchmal müssen ihm Selbstzweifel gekommen sein. In der Erzählung „Das Treffen in Telgte“ aus dem Jahr 1979, eine im Dreißigjährigen Krieg spielende, melancholisch-humoristische Parabel über die „Gruppe 47“, verbrennt zum Schluß das Tagungsgebäude und mit ihm die mühevoll formulierte Friedensresolution der Dichter. „So blieb ungesagt, was doch nicht gehört worden wäre.“ Besser war’s wohl! In der Realität waren Grass’ Eitelkeit und Geltungsdrang größer als solche Einsichten.

In seinem Abschiedsbuch „Vonne Endlichkeit“, das 2015 kurz nach seinem Tod erschien, findet sich an vorletzter Stelle der Prosatext „Herrn Kurbjuhns Frage“. Herr Kurbjuhn war ein alter, heimatvertriebener Ostpreuße in Norddeutschland, dem Grass, der kaschubische Danziger, allmorgendlich auf dem Weg ins Atelier begegnete, und der ihn jedesmal fragte: „Nu. Liebärchen, waas mecht nu los sain inne Polletik?“ Grass zerknirscht: „Meine Antwort geriet zu weitläufig.“ Man kann es sich vorstellen.

Der Text endet: „Heimatvertriebene nannte man sie. Mit ihnen starb eine Sprache, die mich von jung auf gewärmt hatte, deren Reste ich retten wollte, vergeblich.“ Geblieben sei nur die Frage des Herrn Kurbjuhn, „vergessen jedoch sind meine Antworten, allmorgendlich über den Gartenzaun hinweg“. 

Wieviel Trauer über Versäumtes, über vergeudetes Talent, über den verkannten Auftrag drückt sich hier aus. Wieviel Schönes, Bleibendes über das Getane hinaus hätte er schaffen können, wenn er den tagesaktuellen Nonsens gelassen hätte! Und warum das alles? Wegen „waas los sain inne Polletik“ und einer „Es-Pe-De“, die auf den Hund, den Schulz und die Nahles gekommen ist. 

Am 16. Oktober wäre Günter Grass 90 Jahre alt geworden.