© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Die höfliche Nachbarschaft
Nils Minkmars Buch über „das geheime Frankreich“ offenbart interessante gesellschaftliche Einblicke, verstört aber durch politische Nannyhaftigkeit
Jürgen Liminski

Der Titel ist vielversprechend, „Das geheime Frankreich – Geschichten aus einem freien Land“. Und Nils Minkmar, ein Journalist mit deutschem und französischem Paß, verfolgt auch den richtigen methodologischen Ansatz, um für deutsche Leser die Geheimnisse Frankreichs aufzuspüren: Er versucht, in die Mentalität der Franzosen hineinzuleuchten. 

Das gelingt ihm auch an manchen Stellen ebenso schlicht wie überzeugend. Beispiel Höflichkeit. Für Minkmar handelt es sich um eine „kulturelle Differenz“. Er schreibt: „Die Höflichkeit, der Umgang mit Menschen in der Öffentlichkeit wie im Privaten, transzendiert die kulturellen Epochen seit der Entstehung der französischen Nation und ist zugleich konstitutiv für das, was Franzosen ausmacht. Es ist nach wie vor das wesentliche Erziehungsziel: Ohne Ende werden französische Jungen und Mädchen darauf hingewiesen, wie man sich benimmt und bedankt, begrüßt und verabschiedet.“ Nichts habe in seiner eigenen Kindheit größere kulturelle Konflikte verursacht als „der Besuch von deutschen Kindern, deren Eltern sie, wie es nach dem Krieg üblich wurde, frei und autonom erzogen“. 

Es sei mal dahingestellt, ob Erziehung in Deutschland üblicherweise frei und autonom war und ob nicht auch in Frankreich gerade in der Erziehung viel ausprobiert wurde und zwar besonders von den linken Regierungen. Richtig an Minkmars These ist, daß Höflichkeit in Frankreich einen ungleich höheren Stellenwert hat, ja konstitutiv ist für die französische Denkart. Aus diesem Denken entsteht Kommunikation, die Minkmar mit Beispielen aus dem täglichen Leben illustriert, die für deutsche Leser amüsant und komisch wirken, für Franzosen aber selbstverständlich sind.

Das ist die Stärke des Buches: Wenn der Kulturjournalist Minkmar, der heute vor allem für den Spiegel arbeitet, Szenen des Alltags beschreibt und hinterfragt. Wenn er sie aber nicht nur kulturell, sondern auch politisch und ideologisch einzuordnen versucht, wird auch die Schwäche des Buches offenbar. Es sind eben die Scheuklappen des linksliberalen Zeitgeistes, die viele Aspekte der Wirklichkeit ausblenden. 

Dabei hätte hier und da ein verweilender Blick in die Statistiken genügt. Etwa beim Thema Natalität, Familie und Kinderbetreuung. Die erstaunliche Selbstverständlichkeit, mit der Französinnen heute Kinder bekommen, auch außerhalb der Ehe, wird von Minkmar zwar erwähnt, aber nicht erklärt. Sie ruht in einer 140 Jahre alten Diskussion über Familie und individuelle Kindererziehung. Wenn Mütter einer Beschäftigung außer Haus nachgehen, wird einer Tagesmutter immer noch der Vorzug eingeräumt vor einer Krippe. In die Krippe kommen weniger als 15 Prozent der unter Dreijährigen und das auch überwiegend in den großen Metropolen. In der persönlichen Betreuung und emotionalen Stabilität liegt eine starke Wurzel des französischen Individualismus und gallischen Unabhängigkeitsstrebens. Diese geheimen Meriten französischer Mütter sieht Minkmar nicht. Da überwiegt bei ihm das deutsche Establishment-Denken. 

Minkmar faszinieren die Verdienste von Frauen des öffentlichen Lebens. Sehr lesenswert sind die Erzählungen seiner Besuche bei der Philosophie-Professorin Cynthia Fleury oder der Kunsthistorikerin Benedicte Savoy. „Man weiß, daß man sich an einem Ort der französischen intellektuellen Exzellenz befindet, wenn das Büro der Lehrstuhlinhaberin kleiner ist als das einer studentischen Hilfskraft an der Universität des Saarlandes.“ Diese und andere Damen krempeln aus ihren Kammern die Gesellschaft um – „sie arbeiten mitten in Paris daran, Kultur und Wissenschaft zu revolutionieren“, sie „absolvieren ihren Parcours mit großem Selbstbewußtsein“; so entstehe „ohne große mediale Begleitung ein neuer Stil wissenschaftlicher Selbstreflexion, der Frankreich schon bald prägen wird“.  

Aber auch in diesem Kapitel und besonders hier verfällt Minkmar nach den Elogen leider in alte ideologische Denkmuster, wenn er die katholische Kirche in eine frauenfeindliche Ecke stellt oder Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre nahezu heilig spricht oder auch den Genderismus verteidigt und vor allem, wenn er die ehemalige Justizministerin Christine Taubira als „gelehrte und mutige Intellektuelle“ bezeichnet, die „der Amtszeit von François Hollande einen der wenigen politischen Glanzpunkte bescherte, als sie die Ehe auch für Paare gleichen Geschlechts öffnete“. Kein Wort davon, daß dies den argumentativen Protest und Demonstrationen von Millionen Franzosen provozierte und nicht nur von einigen „Fundamentalisten, Rassisten und Frauenhassern“ und daß es eben Taubira war, die die Pläne für mehr Gefängnisplätze und Gesetze gegen salafistische Gefährder in den Schubladen verschwinden ließ.

Minkmars persönliche Beobachtungen und mit Humor gespickte Geschichten aus einem freien Land sind mit Gewinn zu lesen – vor allem das Kapitel über die Geheimnisse der Gastronomie. Es ist ein Buch für frankophile Leser. Ohne geistigen Filter aber, der den ideologischen Zeitgeistkram aussiebt, wird die Lektüre zum Ärgernis. Das macht sie trotz des leichtfüßigen, eingängigen Stils streckenweise doch auch recht anstrengend. 

Nils Minkmar: Das geheime Frankreich – Geschichten aus einem freien Land. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2017, gebunden, 207 Seiten, 22 Euro