© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Das entfremdete Volk
Der belgische Historiker David van Reybrouck erklärt den Aufstieg populistischer Parteien mit der bornierten Abgehobenheit unseres politischen Establishments
Nicolaus Fest

Ob in Europa oder den USA – überall in der westlichen Welt folgen immer mehr Wähler populistischen Parteien. Aber warum? Eine Erklärung haben Medien und Politiker bisher nicht geliefert. Sie beschränkten sich darauf, die Wähler als Rassisten, Pack oder Nazis zu beschimpfen – selbst wenn Statistiken zeigten, daß viele der angeblichen Fremdenfeinde über Jahre Anhänger der Altparteien waren. 

Eine überraschende Deutung liefert nun der belgische Historiker David van Reybrouck. Seiner Ansicht nach sind die neuen Bewegungen eine Reaktion auf die Akademisierung der Parlamente. Immer weniger Wähler fühlten sich von der „Diplomdemokratie“ vertreten. Es sei eine Parallelgesellschaft von Geringqualifizierten entstanden, von Arbeitern, Handwerkern und Angestellten ohne höhere Bildung, die es satt hätten, hart zu arbeiten, rechtstreu zu sein und Steuern zu zahlen, aber von der Politik verachtet zu werden. Während für die Inklusion der Achmeds und Aishes alles getan werde, würden weiße Geringqualifizierte links liegengelassen. 

Und ob in Belgien, den Niederlanden oder Deutschland, die Zahlen sind eindeutig. Hatte im ersten Deutschen Bundestag nicht einmal die Hälfte der Abgeordneten studiert, sind es heute über 90 Prozent – bei einer Akademikerquote in der Bevölkerung von lediglich 15 Prozent. In der Regierung von Willy Brandt hatten sechs Minister keine Universität besucht. Heute hingegen ist es faktisch unmöglich, ohne Abitur und Studium in den Bundestag zu kommen. Daß mancher Abgeordneter seinen Lebenslauf akademisch fälscht, daß Doktorarbeiten plagiiert oder erfunden werden, mag hier sein Motiv haben. Nur zwei von 631 Abgeordneten waren im letzten Parlament Arbeiter – rund 0,3 Prozent. 

Einher mit der Akademisierung der Politik ging eine Entfremdung zwischen Hoch- und Geringqualifizierten. Fühlten sich früher Bürger ohne höhere Schulbildung durch die Volksparteien repräsentiert, ist das längst nicht mehr der Fall. Gerade das linke Akademikermilieu schaue voller Verachtung auf die tätowierte Klasse, die ihnen nicht nur fremdenfeindlich, sondern schlicht fremd erscheine. Die atemlose Diffamierung nach der Wahl von Donald Trump oder dem Brexit machten den Abstand deutlich: Ahnungslose hätten abgestimmt, dumme alte Männer oder, in den offen rassistischen Worten einer ARD-Redakteurin, „white trash, weißer Müll“. Daß viele Studiengänge mit einem „Master“ enden, scheint mancher wörtlicher zu nehmen, als es guttut.  

Warum Geringqualifizierte keine Fürsprecher im Parlament haben, auch dafür liefert van Reybrouck eine Erklärung. Die Bruchlinie der gesellschaftlichen Zugehörigkeit verlaufe heute nicht mehr entlang von Einkommen oder Herkunft. Entscheidend sei die kulturelle Selbstverortung. Wer RTL II sehe statt Arte, wer Volksmusik lieber höre als Klassik oder Patti Smith, wer Pauschalurlaub buche statt die Ayurveda-Kur auf Sri Lanka, sei vom akademischen Milieu so getrennt wie „Die Geissens“ von Gender-Studien. 

Diese Bruchlinie zwischen Gering- und Hochqualifizierten werde nicht mehr als kollektive Ungleichheit wahrgenommen, wie früher bei Arbeitern oder Frauen, sondern als individuelles Versagen. Wer kein Abitur oder nicht studiert habe, sei gleichsam selber schuld. Daher nähmen sich die Altparteien dieser Wähler nicht an. Deren Sorgen vor sozialem Abstieg und Überfremdung würden nicht aufgegriffen, sondern pathologisiert. Während viele Politiker jedes Verständnis für die Flucht armer Afrikaner zeigten, hätten sie keinerlei Mitgefühl für die Nöte von Chantalle oder Kevin. Auch Empathie ist oftmals selektiv. 

Diese Selektivität ist allerdings verfassungsrechtlich ein Problem. Denn welchen Wert hat eine Volksvertretung, wenn sie große Teile des Volkes nicht repräsentiert? Populistische Parteien sind daher, sofern sie für Pluralität und Parlamentarismus eintreten, für van Reybrouck ein notwendiges Korrektiv. Denn nur sie geben dem homo marginalis, dem von der Diplomdemokratie vergessenen Bürger, wieder Stimme und Gewicht.






Dr. Nicolaus Fest ist Journalist und Jurist. Der frühere stellvertretende Chefredakteur der „Bild am Sonntag“ trat in Berlin für die AfD zur Bundestagswahl an.

David van Reybrouck: Für einen anderen Populismus. Ein Plädoyer. Wallstein Verlag, Göttingen 2017, broschiert, 96 Seiten, 12,90 Euro