© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

„Deutsch neu definieren“
Ist die Evangelische Kirche zu politisch, gar parteiisch? Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann über Luther, Politik und die AfD
Moritz Schwarz

Frau Professor Käßmann, ist die Evangelische Kirche in Deutschland noch die Kirche in Luthers Geist?

Margot Käßmann: Sie ist es in dem Sinne, daß sie ringt um eine Sprache für den Glauben. Sie hat sich aber auch von ihm distanziert, etwa mit Blick auf seinen Anitjudaismus.

Luther ging es um das Geistliche, der Kirche heute, so der Eindruck von außen, dagegen vor allem um das Weltliche.  

Käßmann: Wenn Sie nicht nur von außen, sondern auch nach innen schauen oder Gottesdienste besuchen würden, dann sähen Sie, wie geistlich es in unseren Kirchen zugeht. Aber natürlich geht es auch ums Weltliche. Das spielte auch bei Luther eine große Rolle: Was hat er gerungen mit den Fürsten, was hat er sich eingemischt in politische Fragen! 

War entscheidend nicht die Hinwendung zu Gott? Das Verweltlichte gehörte doch zu dem, was er an seiner Kirche kritisierte. 

Käßmann: Bis Luther galt gerade nicht der weltabgewandte Mensch als christliches Ideal. Das Kloster war für Luther eben nicht der Ort für einen Christenmenschen, sondern die Welt. Der Bruch mit dem Zölibat war dafür ein theologisches Signal. Für den Reformator lag die Berufung des Menschen in dessen Arbeitsleben und im Alltag. Handwerker, Bauern, die besenschwingende Magd – all das waren ihm gute Berufe vor Gott. 

Im Zentrum aber stand gleichwohl die Begegnung mit diesem – und diesen Eindruck erweckt die Kirche heute oft nicht mehr. 

Käßmann: Im Zentrum stand, daß jeder Christ ohne die Kirche als Mittler direkt mit Gott in Verbindung treten kann. Luther führt etwa den Morgen- und Abendsegen ein, den ich wunderschön finde: Des Morgens bittet er, Gott möge ihn beschützen: „Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde!“ Und des Abends legt er den Tag zurück in Gottes Hand. Aber was die Spiritualität angeht, war er Pragmatiker. Sein Barbier fragte ihn etwa einmal, wie man beten solle. Darauf Luther: „Jeden Tag ein Vaterunser – und ein kräftiges Amen gegen deinen Zweifel. Das genügt! Sonst kein Brimborium.“ Das gefällt mir. Was die Kirche heute angeht – natürlich nimmt sie zu politischen Fragen öffentlich Stellung. Aber vermutlich übersehen Sie, wieviel sie auch an Seelsorge und Verkündigung leistet. Das jedoch läßt sich in der öffentlichen Kommunikation nicht so gut darstellen wie politische Äußerungen. Ich würde Ihnen aber recht geben, daß die Kirche sich fragen muß, warum sich die meisten Menschen in ihrer seelischen Not lieber an die Psychologie, fernöstliche Lehren, alternative Medizin etc. wenden, statt an ihre Kirche. Warum finden sie nicht dort Trost, Zuversicht und Lebenskraft? Warum etwa sagt ihnen Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirte“ nichts mehr – der zweitausend Jahre für Christen Quell eben dessen gewesen ist? Das tut mir manchmal beinahe weh. 

Trägt die Kirche daran eine Mitschuld? 

Käßmann: Die meisten Leute haben die Sehnsucht nach dem Gottesdienst verloren. Das mag auch an den Kirchen liegen – aber auch am Lebensgefühl der Menschen. Als ich Bischöfen aus Tansania berichtete, daß bei uns in Eisleben nur sieben Prozent der Kirche angehören, fragten sie erstaunt: „Was glauben die übrigen?“ Denn daß ein Mensch nicht glaubt, ist für sie unvorstellbar!  

Ist die Kirche zu politisch? 

Käßmann: Das finde ich nicht, denn die Bibel ist für mich nichts im Abseits der Welt. Schauen Sie in die Gleichnisse, Jesus redet stets in der Lebenswelt der Menschen. Und wenn es in den Seligpreisungen heißt: „selig sind, die Frieden stiften“ oder im Buch Mose: „einen Fremdling sollt ihr nicht bedrücken“, dann sind das reale Aufforderungen. 

Verwechselt die Kirche aber nicht vielleicht politisch mit parteiisch sein?

Käßmann: Die Kirche bindet sich an keine Partei.  

Selbst von links wird attestiert, die evangelische Kirche habe einen rot-grünen Drall.

Käßmann: Das wird nicht von links attestiert, sondern von rechts in den Raum gestellt. Wenn die Kirche etwa für die Bewahrung der Schöpfung eintritt und das mit den ökologischen Forderungen von Parteien übereinstimmt, heißt das nicht, daß sie Parteipolitik vertritt.    

Es ist auch nicht gemeint, daß mit den Grünen paktiert wird. Aber es wird deren Weltanschauung präferiert. 

Käßmann: Die Kirche präferiert nicht irgendeine Anschauung, sie lebt aus dem Evangelium. Nehmen wir das Flüchtlingsthema: Das hat die Kirchen sehr bewegt. Denn Menschen in Not beizustehen ist christliche Grundüberzeugung! Das heißt übrigens nicht, daß die Christen die entstehenden Probleme nicht gesehen hätten. Im Gegenteil, das kirchliche Engagement ist kein Willkommens-Strohfeuer, sondern ein langfristiges Bemühen. Wir kümmern uns dauerhaft um die Geflüchteten. Und das ist keine leichte Aufgabe. 

Es geht nicht um Kritik an der guten Tat in der Not, im Gegenteil, diese ist respektwürdig. Es geht etwa um die Aufladung der „Refugees welcome“-Politik durch die Kirchen als moralisch-christlich.

Käßmann: Die Kirchen haben die Willkommenskultur sehr begrüßt. In Not geratenen Menschen zu helfen ist keine „moralisch-christliche Aufladung“, sondern ein für Christen selbstverständliches Handeln. Ich habe erlebt, wie kritisch und selbstkritisch auch in den Gemeinden das Thema Flüchtlinge diskutiert wird. Natürlich weiß man dort, daß Integration eine langfristige und energiezehrende Aufgabe ist. Viele Geflüchtete werden es schaffen – andere aber absehbar nicht. Und natürlich sind auch nicht alle, die gekommen sind, per se gute Menschen. Auch das war uns von Anfang an klar. Aber gerade deshalb bewundere ich jene Gemeinden, die sich in der Krise 2015 so eingesetzt haben – und das auch immer noch auf großartige Weise tun.

In seinem neuen Buch schreibt Boris Palmer: „Ob Angela Merkel eine Wahl hatte, als die Flüchtlinge (kamen), weiß ich nicht. Vermutlich nicht. Das war nicht der Fehler. Der Fehler war eine Politik, die aus der Not geboren wurde, zum moralischen Imperativ zu erklären und einen großen Teil der deutschen Gesellschaft damit auszugrenzen.“ Offenbar nimmt also auch Palmer eine Aufladung – einen „moralischen Imperativ“ – wahr. Und trifft sein Vorwurf nicht auch auf die Kirchen zu? 

Käßmann: Nein, ich sehe das nicht. Weder „die“ Politik oder die Kirchen haben einen moralischen Imperativ aufgestellt. Christen helfen Notleidenden, weil sie barmherzig sind und nicht aus moralischen Gründen. Wenn Institutionen wie die Kirchen an die Menschenwürde erinnern, laden sie nicht ein Thema auf, sondern plädieren dafür, Menschen zu helfen und dieses Thema nicht populistischen rechten Gruppen zu überlassen. 

Ganz im Ernst: Sie können diese Aufladung wirklich nicht erkennen? 

Käßmann: Wo bitte sehen Sie sie?

Etwa in der teils erbitterten Polarisierung der Gesellschaft in der Asylfrage. Die gäbe es ohne diese Aufladung doch gar nicht. 

Käßmann: Wenn, dann habe ich eher den Eindruck, der Punkt ist, daß ein Mensch als blöd und naiv, als Gutmensch und depperter Weltverbesserer dargestellt wird, kümmert er oder sie sich um Flüchtlinge. Die Kirchen sind nicht verantwortlich für die von Ihnen konstatierte „Aufladung“. Die AfD und andere rechte Gruppen heizen die Stimmung gegen geflüchtete Menschen an.

Da haben Sie recht, es gibt diese Aufladung leider auch von der anderen Seite. 

Käßmann: Freut mich, daß nun auch Sie die „Aufladung“ auf seiten der populistischen Rechten sehen. Außerdem: Ich sehe eine Auseinandersetzung, ja – aber warum moralisch? Die Kirche versucht immer auch die kritischen Gegenstimmen zu Wort kommen zu lassen. So gab es auf dem Kirchentag im Mai etwa auch eine Veranstaltung mit einer AfD-Vertreterin. Oder ich erinnere mich an eine Kirchentagsveranstaltung mit Angela Merkel, damals noch als Umweltministerin, bei der sie so vehement ausgepfiffen wurde, daß der Sicherheitsdienst sie fast zum Weggang überreden wollte. Da sehen Sie, wie kontrovers bei uns diskutiert wird. 

Merkel vertrat damals lediglich Kohls Umweltpolitik – und schon darauf folgt eine so aufgebrachte Reaktion (Stichwort: Sicherheitsdienst). Warum? Offenbar wurde ihre Position nicht politisch, sondern moralisch betrachtet. Das ist die Aufladung, um die es geht. 

Käßmann: Tatsache ist, daß Sie Christen in allen politischen Parteien finden. Das widerspricht Ihrer These von einem parteiischen Christentum.

Das ist, wie gesagt, nicht gemeint, sondern die Auffassung, Politik sei nicht Konkurrenz gleichberechtigter Meinungen, sondern Kampf zwischen Gut und Böse – etwa christliche Flüchtlingspolitik contra unchristliche AfD-Politik. 

Käßmann: Es gibt keinen Kampf zwischen Gut und Böse, sondern ein Ringen darum, wie wir als Gesellschaft leben wollen. So habe ich meine Kirche mein Leben lang erlebt. 

Streit ist für Sie per se ein Indikator für Meinungsfreiheit? Man kann auch innerhalb einer Richtung bis aufs Blut streiten, echte Alternativen aber gemeinsam ausgrenzen. 

Käßmann: Waren Sie schon mal auf einer EKD-Synode?

Nein. 

Käßmann: Da wird wirklich gestritten – auch zwischen echten Alternativen. Nehmen Sie etwa die Ehe für alle. Natürlich gibt es auch Synodale, die nicht dafür stimmen. Oder ich denke an meine Co-Mitglieder im Rat der EKD Peter Hahne und Hermann Gröhe, die keineswegs etwa automatisch dem damaligen Vorsitzenden Wolfgang Huber zugestimmt haben. Im übrigen würde ich nie sagen, daß wer nicht meiner Meinung ist, kein Christ ist.  

Für Wirbel sorgte zuletzt Ihre Kommentierung des AfD-Programms. Sie sagten: „Frauen sollen Kinder bekommen, aber nur wenn sie ... biodeutsch sind. Das ist eine neue rechte Definition von einheimisch gemäß dem sogenannten kleinen Arierparagraphen der Nationalsozialisten. Biodeutsch soll bedeuten: zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern, und da weiß man, woher der braune Wind weht.“ 

Käßmann: Ja, denn im Programm heißt es: „Masseneinwanderung ist kein geeignetes Mittel gegen demographischen Wandel. Vielmehr muß mittels aktivierender Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als einzig tragfähige Lösung erreicht werden.“ Die Frage für mich war also: Was meint „einheimisch“? Eine Antwort habe ich bei einem Schweriner AfD-Landtagsabgeordneten gefunden, wonach deutsch bedeute: „zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern“. Diese Definition habe ich dann aufgegriffen. Also noch einmal im Klartext: Zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern stammt nicht von mir, sondern aus AfD-Kreisen. Die haben dann daraus gemacht, ich würde jeden mit zwei deutschen Eltern und vier deutschen Großeltern als Nazi betrachten. Was unwahr ist – und überdies absurd, denn ich wäre dann selbst einer –, aber für eine Flut übler Schmähpost gegen mich gesorgt hat. 

Ist es nicht ebenso absurd, eine ganze Partei anhand der Äußerung eines Abgeordneten als nationalsozialistisch zu interpretieren?

Käßmann: Deshalb würde ich alle AfDler gerne fragen: Was heißt für sie Volk? Was heißt für sie deutsch?

Warum haben Sie es nicht getan? 

Käßmann: Ich habe die Antwort eines Parteimitgliedes zitiert. Klar hätte ich diplomatischer sein können. 

Statt dessen wählten Sie das Nazi-Verdikt, den in Deutschland schlimmstmöglichen Vorwurf. Haben Sie damit nicht maßgeblich zur Eskalation beigetragen?

Käßmann: Schlimmstmöglicher Vorwurf? Ich glaube, der lautet zur Zeit, „Islamversteher“ zu sein – etwa für Menschen, die Solidarität mit Muslimen üben. Dafür bekommt man Drohungen wie: „Wir werden Dich halal ausbluten lassen!“ Und habe ich zur Eskalation beigetragen? Ich frage Sie, was soll die Aussage denn bedeuten, Bevölkerungsprobleme könnten nicht durch „Masseneinwanderung“ gelöst werden? Daß Afrikaner oder Araber bei uns Kinder zeugen? Was für Bilder sollen da in den Köpfen hervorgerufen werden?

Vielleicht geht es gar nicht um Afrikaner oder Araber, sondern um das Prinzip, Probleme aus eigener Kraft zu bewältigen, statt durch Einwanderung.

Käßmann: Was bitte ist denn an Einwanderung so schrecklich?

Schrecklich oder nicht ist nicht die Frage. Sondern, ist es legitim in diesem Zusammenhang von „Arierparagraph“ und „braunem Wind“ zu sprechen? 

Käßmann: Ich finde die Frage, die dahintersteht, nämlich wer zu unserem Land gehört und wer nicht, angesichts der deutschen Geschichte hochproblematisch. Und ich glaube, es soll Angst vor Einwanderung geschürt werden. Unlängst hat eine Berliner Politologin eine postmigrantische Narration dessen, was deutsch ist, gefordert. Ich finde das gut. Denn wir können in unserem Land, in dem so viele Menschen verschiedenen Ursprungs leben, deutsch nicht mehr nach Herkunft definieren, sondern müssen neue, zukunftweisende Wege dafür finden. Und wenn es Menschen gibt, die dem politisch widersprechen, ohne dabei Rassismus zu vertreten, sind sie herzlich eingeladen, demokratisch darüber zu streiten. 

Rassismus ist auch so ein politisierter Begriff.

Käßmann: Wie würden Sie es nennen, wenn Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft diskriminiert werden?

Eben das ist die Frage, ob das tatsächlich der Grund ist. Nach der Neidtheorie etwa ist der Grund soziale Konkurrenz, nicht Rasse. Und als 1945 Flüchtlinge gleicher „Rasse“ kamen, ostdeutsche Vertriebene,  war die Ablehnung mancherorts größer als heute. Der Begriff Rassismus ist längst nicht mehr deskriptiv, sondern hegemonial. Als politische Kampfvokabel sichert er diskursive Vorherrschaft.

Käßmann: Denken Sie doch bitte daran, wie viele Menschen hierzulande etwa als „Nigger“ beschimpft werden, das ist ganz eindeutig rassistisch. Oder was bitte soll uns das AfD-Wahlplakat sagen, das eine weiße Schwangere zeigt, darunter der Spruch: „Neue Deutsche? Machen wir selber!“ 

Mutmaßlich, daß wir als Volk unsere demographischen Probleme selbst lösen sollten – statt durch Massenzuwanderung, wie die anderen Parteien vorschlagen. 

Käßmann: Massenzuwanderung ist auch eine politische Kampfvokabel. 

Korrigiere: Zuwanderung. 

Käßmann: Und wen, wenn ich fragen darf, meinen Sie mit Volk? Soll das Plakat nicht sagen, daß der Vater dieses Kindes kein Mann schwarzer Hautfarbe ist?

Ich verstehe es so, daß der Vater ein Deutscher ist – sei er nun weiß oder schwarz. Schließlich engagieren sich in der AfD auch etliche naturalisierte Einwanderer. 

Käßmann: Nun, ich verstehe es so, daß da Volk über die Blutsabstammung definiert wird und alle, die nicht dazugehören, ausgeschlossen werden sollen. Aber ich würde ja mit der AfD darüber diskutieren. Allerdings nicht, wenn von dort, wie geschehen, ausschließlich wüste Verbalinjurien kommen oder anspielungsreich gehöhnt wird: „Frau Käßmann, don’t drink and speak!“ Denn das ist unter der Gürtellinie. 

Dem ist allerdings nicht zu widersprechen. 

Käßmann: Ich wäre wirklich bereit, diese Debatte zu führen – aber nur bei gegenseitigem Respekt. 






Prof. Dr. Margot Käßmann, die ehemalige Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers war von 2009 bis 2010 Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. Seit 2012 ist sie im Auftrag des Rates der EKD „Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017“ . Geboren wurde die Professorin für Ökumene und Sozialethik 1958 im hessischen Marburg. 

Foto: Theologin Käßmann: „Ich wäre bereit, die Debatte zu führen“

 

weitere Interview-Partner der JF