© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Politische Rituale beherrschen die Szenerie
USA: Kaum ein anderes Thema spaltet das Land wie das Waffenrecht / Erhebliche Unterschiede zwischen Stadt und Land
Elliot Neaman

Der Täter soll hier nur als der Massenmörder von Las Vegas bezeichnet werden, um ihm die postume Berühmtheit zu versagen. Ein Motiv für die Schüsse, die 59 Besucher eines Musikfestivals töteten und über 500 verletzten, konnte bislang nicht ermittelt werden und wird möglicherweise nie eindeutig zu klären sein. 

Nach jeder Massenerschießung in den USA folgt ein mittlerweile altbekanntes politisches Ritual: Die mächtige Lobby der Waffenbesitzer und -befürworter, die National Rifle Association (NRA), hüllt sich in strategisches Schweigen. Ihre linksliberalen Gegner reiten die Welle der öffentlichen Betroffenheit und stellen eine lange Liste von Forderungen zur Verschärfung des Waffenrechts auf; Konservative ziehen den Kopf ein oder versuchen das Thema zu wechseln. 

Drastische Erhöhung der Waffenkäufe nach Bluttat 

Nach den Ereignissen vom vorvergangenen Sonntagabend, als ein Verrückter aus seinem Hotelfenster im 32. Stock mit einem Arsenal von halbautomatischen Gewehren und sogenannten „Bump Stocks“ das schlimmste Blutbad der jüngeren US-Geschichte anrichtete, stand die Frage wieder einmal ganz oben auf der Tagesordnung: Werden die USA jetzt endlich gegen die Pandemie der Schußwaffenmassaker vorgehen?

Die Antwort darauf ist ebenfalls nicht neu: eher unwahrscheinlich. Bluttaten wie das Massaker von Las Vegas führen stets zu kurzfristigen Umsatzsteigerungen im Schußwaffenhandel, die der Sorge der Käufer geschuldet sind, daß der Kongreß womöglich doch Einschränkungen des Waffenrechts erlassen könnte. 

Tatsächlich ist allenfalls damit zu rechnen, daß sich Abgeordnete beider Parteien zu einem kleinen Schritt entschließen und künftig den Verkauf von Bump Stocks verbieten. Dabei handelt es sich um Aufsatzvorrichtungen, die den Rückstoß der Waffe nutzen, um halbautomatische Gewehre in Schnellfeuergewehre zu verwandeln, und dadurch quasi eine Umgehung des 1986 erlassenen Verbots automatischer Handfeuerwaffen ermöglichen. In der Folge des Massakers von Las Vegas verzeichneten Waffengeschäfte US-weit eine drastisch erhöhte Nachfrage nach diesen Hilfsmitteln. 

In Wirklichkeit würde selbst ein Verbot von Bump Stocks wenig ausrichten. Die geringfügigen Anpassungen, die Schußwaffenhersteller an Militärwaffen vornehmen, um sie an Privatpersonen verkaufen zu können, lassen sich leicht rückgängig machen. Das HK416 beispielsweise, das aktuell zu den Verkaufsschlagern in Waffengeschäften zählt, läßt sich ohne große technische Vorkenntnisse auf Automatikbetrieb aufrüsten. 

Die amerikanische Waffenkultur wird sich in absehbarer Zukunft kaum ändern. Eher ist damit zu rechnen, daß die aktuellste Greueltat ein neues Kapitel in der Geschichte der Massenerschießungen einläutet. Die Strategie des Mörders, Quasi-Maschinengewehre aus großer Entfernung (cirka 500 Meter) und großer Höhe in eine Menschenmenge zu feuern, wird bestimmt Nachahmer finden, die versuchen werden, die Opferzahlen von Las Vegas noch zu übertreffen. 

Schätzungen zufolge besitzen die US-Amerikaner insgesamt 270 Millionen Schußwaffen – statistisch gesehen hat jeder Erwachsene und jedes Kind mindestens eine. Damit liegen die USA in der globalen Statistik der Staaten mit der höchsten Anzahl von Schußwaffen an erster Stelle – gefolgt von Jemen, einem kleinen Land, das in einem blutigen Bürgerkrieg steckt. Im Zeitraum von 1966 bis 2012 entfielen 31 Prozent aller weltweit begangenen Massenmorde auf die USA, deren Anteil an der Weltbevölkerung nur fünf Prozent beträgt. 98 Prozent der Täter sind Männer, die Mehrzahl von ihnen weiß.

Kein anderes Thema – vielleicht mit Ausnahme der Abtreibungsdebatte – spaltet die US-Amerikaner so heftig wie dieses. Wenn nach jedem neuen Massenmord immer wieder die gleichen Debatten geführt werden, so liegt dies auch daran, daß beide Seiten weder eine gemeinsame Sprache noch einen gemeinsamen Kontext haben. 

Waffenbesitzer beschwören Kultur und Identität

Aus linksliberaler Sicht stellen Schußwaffen zuvorderst ein Gesundheitsrisiko dar: In den vergangenen Jahrzehnten sei viel getan worden, um Verkehrsmittel wie Kraftfahrzeuge, Flugzeuge und Züge sicherer zu machen, Arbeitsschutzmaßnahmen zu verbessern und Unfälle im Haushalt zu vermeiden. Hingegen fehle der Wille, die entsprechenden technischen und politischen Vorkehrungen zur Verhinderung von Todesfällen und schweren Verletzungen durch Schußwaffen zu treffen. 

Waffenbesitzer haben eine vollkommen andere Sicht. Für sie geht es dabei vornehmlich um Kultur und Identität. In den USA gibt es mehr Schießclubs als McDonald’s-Restaurants. Wer dort Mitglied wird, um etwas über Waffenkunde zu lernen und schießen zu üben, wird schnell in eine im ganzen Land verbreitete Subkultur initiiert, für die der Waffenbesitz eine Art Lebensphilosophie, eine Form des gemeinschaftlichen Zusammenhalts und ein Schutzschild in einer als bedrohlich empfundenen Welt darstellt. So nehmen die Privatarsenale amerikanischer Bürger eine symbolische Bedeutung an, die weit über ihren praktischen Nutzen hinausgeht. 

Wer ihnen Predigten über Schußwaffenverbote hält, setzt sich nicht nur dem Vorwurf aus, ein scheinheiliger Besserwisser zu sein, sondern zeigt auch vollkommenes Unverständnis gegenüber einer anderen Lebensweise mit anderen Bräuchen. 

Linksliberale Befürworter einer Verschärfung des Waffenrechts leben mehrheitlich in Großstädten entlang den beiden Küsten und haben oft noch nie eine Schußwaffe in der Hand gehalten. Vertreter des Rechts auf Waffenbesitz sind hauptsächlich in ländlichen Gegenden anzutreffen, wo die Handhabung von Schußwaffen zum Alltag zählt. Die Kleinstadt Mesquite an der Ostgrenze von Nevada, unweit vom Grand Canyon National Park in Arizona, wo der Todesschütze von Las Vegas sich 2003 ein Haus kaufte, paßt genau in dieses Schema. 

Im Bundesstaat Nevada gilt ein selbst für US-amerikanische Verhältnisse notorisch liberales Waffenrecht, das sich bislang gegen sämtliche Verschärfungsversuche als immun erwiesen hat. Mit wenigen Ausnahmen – darunter Gerichtssälen und Schulen – dürfen Schußwaffen so gut wie überall im öffentlichen Raum offen am Körper getragen werden. 

Die Hürden für den Erwerb einer Lizenz für verdeckte Handfeuerwaffen sind ebenfalls kaum der Erwähnung wert. Bei den letztjährigen Wahlen konnten die Befürworter einer Waffenrechtsverschärfung einen beachtlichen Sieg in Form eines Volksbegehrens zur Einführung strengerer Leumundsprüfungen beim Kauf einer Schußwaffe erringen. 

Indes ist es dem republikanischen Justizminister von Nevada bislang gelungen, die gesetzliche Umsetzung durch diverse Rechtsverfahren und andere Verzögerungstaktiken bis auf weiteres aufzuschieben.





Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt europäische Geschichte an der University of San Francisco.