© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Reiche bersten, Throne splittern
Wiederentdeckt: Achim von Arnims Geschichtsdichtung „Die Kronenwächter“
Eberhard Straub

Achim von Arnims Roman „Die Kronenwächter“ ist vor zweihundert Jahren zum ersten Mal erschienen. Er fand nie eine breite Aufmerksamkeit und blieb ein Roman für Schriftsteller, von Joseph von Eichendorff über Heinrich Heine und Theodor Fontane bis zu Peter Härtling. Hugo von Hofmannsthal hielt „Die Kronenwächter“ für eines der „tiefstdurchdachten Kunstwerke“. Ihn begeisterte die umsichtige Zurückhaltung des Erzählers, den Fluß der rasch wechselnden und beziehungsreich ineinander verwobenen Situationen nicht aufzuhalten.

Achim von Arnim betrachtete nicht selbstherrlich von einem weit entrückten Standpunkt die mannigfach verschlungenen Handlungen. Er läßt sich vielmehr auf das Leben in seiner unübersichtlichen Fülle ein, ergriffen von der Größe des Wirklichen, was auch eine Andacht vor dem Kleinen einschließt. Sein gar nicht romantischer, sondern bis ins Groteske realistischer Roman spielt im Schwaben des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts, in einer Epoche der Auflösung der herkömmlichen sozialen, religiösen und politischen Ordnung. Sein Bemühen, diese Zeit „in aller Wahrheit der Geschichte“ aus Chroniken und Handschriften kennenzulernen, führte zu dieser Dichtung, die sich als solche „keineswegs für eine geschichtliche Wahrheit gibt, sondern für eine geahnte Füllung der Lücken in der Geschichte, für ein Bild im Rahmen der Geschichte“.

Der wahre Weltherrscher ist das Kapital

Dichten ist für ihn ein Sehen höherer Art, bei dem sich Ahnung und faktische Gegenwart vermischen unter dem Eindruck von dem, „was wir suchen, was uns sucht“, wie er in seiner Einleitung bemerkt. Nur der Dichter vermag zu schildern, wie es eigentlich gewesen ist, weil er mit ahnungsvollen Bildern ein umfassendes Zeitbild zu entwerfen vermag, in dem sich unerschöpfliche Le-

benstotalität offenbart. Der Dichter ist daher der wahre Wirklichkeitswissenschaftler, was jeder Historiker seit Leopold von Ranke sein möchte oder sein sollte.

Der wichtigste Schauplatz des Geschehens ist Waiblingen, einst als Residenz Kaiser Friedrich Barbarossas in bedeutende  Zusammenhänge gerückt, jetzt ein verwildertes Paradies des deutschen Kleinlebens voller Unkraut und Ränke. In der Welt als Geschichte mit ihrem rastlosen Auf und Ab und Hin und Her ist alles eine vergängliche Phantasie der Zeit. Nicht weit von Waiblingen entfernt liegt die Freie Reichsstadt Augsburg, das Tor zur Welt hinunter nach Italien, hinüber nach Spanien und hinauf in die Niederlande, den Lebensräumen des künftigen Kaisers Karl V. 

Das  Heilige Römische Reich und sein Symbol, die Reichskrone, haben unter Maximilian I., einem letzten deutschen Ritter und schon italienisch-kultivierten Hofmann, fast jede Bedeutung verloren neben den beiden neuen weltbewegenden Mächten: der spanischen Universalmonarchie Kaiser Karls V. und der Weltherrschaft des alles überwältigenden Geldes, repräsentiert von den Augsburger Fuggern, den unersetzlichen Kronenwächtern, weil sie mit ihrem Geld Throne und Reiche stabilisieren.

Der wahre Weltherrscher ist also das Kapital. Zum Geld drängt mittlerweile jeder, von ihm hängt alles ab. Es ist ein Irrlicht dieser Zeit und gewährt dennoch trotz seiner launenhaften Unberechenbarkeit sämtlichen Erscheinungen in den unbeständigen Wirklichkeiten wenigstens eine vorläufige Dauer. Mit ihm kommt welscher Tand in deutsches Land, eine neue Kunst und Lebenskunst, eine neuartige Staatsräson und eine neue berechnende Vernunft. Alles Neue gefällt. Martin Luther begründet eine neue religiöse Empfindsamkeit in Deutschland, und Dr. Faust, der international berühmte Arzt und Naturwissenschaftler, sorgt mit neuen Heilpraktiken dafür, daß sich im gesunden Leib eine schöne Seele zu entfalten vermag. Er macht aus dem kranken, hinfälligen Menschen einen neuen, lebensfrohen. Der Bürger und Städter triumphiert in dieser Epoche, enthält sich jedoch, sobald reich genug geworden, jeder bürgerlich-politischen Tätigkeit und strebt – wie die Fugger – nach vornehmen Titeln und adeligem Landleben draußen vor der Stadt.

Der alte Adel hat den Anschluß an die neue Zeit verloren. Die selbsternannten Kronenwächter, die sich als Sachwalter längst vergangener Kaiserherrlichkeit der Staufer verstehen, blicken nur zurück und verschließen sich in Haß vor der nie stille stehenden Welt als Geschichte und den unvermeidlichen Metamorphosen der Gesellschaft. Als weltfremde und damit geschichtsferne Idealisten leben sie in einer zweiten Wirklichkeit, im Reich der Fiktionen und Ideologien. Sie sind verwildert zu Raubrittern und werden zu Terroristen, die nach dem Leben Kaiser Maximilians trachten, um eine unwiederbringliche Welt von gestern zu restaurieren.

Berthold, ein Nachkomme der Staufer, als Findelkind seiner Herkunft erst nicht bewußt, in Waiblingen aufgewachsen, kauft die Ruinen des staufischen Palastes, um es sich darin bürgerlich bequem zu machen und dort eine Tuchfabrik einzurichten. Er wird ein tüchtiger Unternehmer, reich und mächtig in der Stadt. Das Geld verdirbt freilich den vorbildlichen Bürgermeister und entrückt ihn einer verantwortungsbewußten Bürgerlichkeit, ohne jedoch zum Adel seiner Herkunft und zum sittlichen Adel zu finden. 

Preußische Reformer ebneten Wege aus der Krise

Er wahrt Distanz zu den Kronenwächtern, die ihm mißtrauen, und scheitert endlich als problematische Natur, als ein innerlich Zerrissener, der keiner Lage gewachsen ist und sein Leben ohne Genuß verzehrt. Ein Unternehmer, der zu viel in Historien aller Art gelesen hat, sich die kaiserlich-ritterliche Vergangenheit romantisiert und von des Gedankens Blässe gezeichnet ist, wird kein Mann der Tat, des selbstbewußten Handelns.

Berthold ist kein richtiger Bürger, auch kein richtiger Aristokrat, er versteht weder sich, noch seine Zeit, kurzum er ist ein Berliner von 1817 und 2017, ein ganz modernes Individuum ohne Verbindung zur Vergangenheit, die ungewisse Zukunft fürchtend und über der Gegenwart auf einem bedenklich schwankenden Seil tanzend.

Achim von Arnim blickte aus seiner aufgewühlten Zeit in eine Welt im Umbruch zurück, in der ähnlich wie nach der Französischen Revolution und dem Französischen Kaiserreich alte und neue Kräfte oder Gespenster aufeinanderprallten. Als Junker und Gutsherr, mitten im praktischen Leben stehend, fürchtete er die Theoretiker und Systemschmiede. Er mahnte, sich an das Gegebene zu halten, mit den Beständen zu rechnen und daran anknüpfend Wegen aus der alle umfassenden Krise zu folgen, wie sie die preußischen Reformer geebnet haben.  

Bei den von Arnim erdichteten Gräbern der Staufer in Waiblingen mahnte eine Inschrift, nie zu vergessen, daß alles Gewordene im ununterbrochenen Werden vergeht, weil „ein jegliches Ding seine Zeit und alles unter dem Himmel seine Stunde“ habe. Jede Gegenwart veraltet und wird verneint durch den schaffenden und deshalb immer zerstörerischen Menschen. Reiche bersten, Throne splittern, nichts hat Bestand, und nicht einmal die sogenannte klassische Kunst, der Abgott der Gebildeten, steht über der Zeit.

Monarchie und Adel hatten ihre Legitimation eingebüßt

Die großen Katastrophen – der Untergang des Römischen Reiches, die Auflösung der feudalen Gesellschaft und der revolutionäre Umsturz des königlichen Staates – sind für Achim von Arnim auch umfassende Kulturkatstrophen. Alles, was untergeht oder beiseite geschoben wird, hatte sich schon längst überlebt. Auch Revolutionäre konnten nur deshalb die Monarchie und den Adel beseitigen, weil beide längst jede sittliche Legitimation eingebüßt hatten.

Davon handelten Achim von Arnims Novellen als Zeitgeschichten oder seine zahllosen historisch-politischen Zeitungsartikel. Sein Roman ist kein Historiengemälde. Er richtet sich im historischen Kostüm als Zeitstück gegen Ideologen sämtlicher Richtungen, die zäh an sinnlos gewordenen Einrichtungen, Gewohnheiten, Kunstrichtungen und Denkweisen festhalten oder in der Zukunft das Ende der Geschichte in idealen sozialen und politischen Verfassungen erwarten, die von dem „Stirb und Werde“ in der Welt als Geschichte erlösen.

Dies will er ausdrücklich seiner Zeit sagen, „die ihr Zeitliches überheiligen möchte mit vollendeter ewiger Bestimmung“ in heiligen Allianzen und gerechten Kriegen als Voraussetzung des ewigen Friedens in der besten aller Welten, wie er in der Einleitung zu den „Kronenwächtern“ zu bedenken gibt. Das muß auch ernstlich unserer argwöhnischen und geschwätzigen Zeit gesagt sein, um Achim von Arnims Worte aufzugreifen, die sich als westliche Wertegemeinschaft überheiligen, also verewigen und deren Verfassung der Geschichtlichkeit entrücken möchte.

Die problematischen Naturen von heute „sind Nachtwandler mitten am Tage“. Sie verfehlen das Ziel des Lebens, in schaffender Freude all das weltklug zu verwandeln, was seine Lebenskraft verloren hat. Dazu will der unverzagte Achim von Arnim jeden auffordern in Anlehnung an den barocken Dichter Paul Fleming: „Tu, was getan muß sein!“ Wer mit seiner Zeit hadert, war für ihn kein kritischer Kopf. „Die Zeit ist nun so eben gut, wie sie ist, sei du nur besser!“ Das ist die Botschaft nicht für jeden, weshalb leider die „Kronenwächter“ im Kulturmuseum verstauben. Es wäre an der Zeit, sie aus diesem Gefängnis zu befreien. 

Achim von Arnim: Die Kronenwächter. Erster und zweiter Band. Edition Holzinger, Berliner Ausgabe, 2015, kartoniert, 510 Seiten, 19,90 Euro