© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

„Fahrt ihr auch ohne Wiederkehr“
Vor hundert Jahren fiel der Lyriker Walter Flex / Sein Œuvre erschließt sich heute nur noch wenigen
Günter Scholdt

Am 16. Oktober 1917 erlag im estländischen Peude auf der Insel Ösel der Schriftsteller Walter Flex seiner Verwundung, die ihn bei einem Scharmützel mit einer russischen Nachhut ereilte. Der am 6. Juli 1887 in Eisenach geborene Autor entstammte einem nationalbewußten Elternhaus. Sein Patriotismus festigte sich als Mitglied in der Burschenschaft der Bubenreuther und durch eine dreijährige Hauslehrer-Tätigkeit bei den Bismarcks. Zuvor hatte er sein Studium der Geschichte und Germanistik mit der Promotion über Schillers „Demetrius“ abgeschlossen. 

Eigene dichterische Neigungen realisierten sich bereits in jungen Jahren durch Buchpublikationen und Aufführungen von Dramen auf Provinztheatern. Bei Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig. Zunächst kam er in Frankreich zum Einsatz, 1915 an der Ostfront. Zuletzt war er Kompanieführer im Baltikum. Über die Zeit seiner Offiziersausbildung und sich anschließende Kriegs- und Kameradschaftserlebnisse unterrichtet sein bekanntestes Buch „Der Wanderer zwischen beiden Welten“. 

Dieser Ende 1916 erschienene millionenfach gelesene Best- und Longseller wie sein baldiger Schlachtentod ließen Flex zu einer nationalen Ikone werden. Schon seine ab 1914 erscheinenden Kriegsgedichte und -erzählungen fanden breite Anerkennung. Auch an höchster Stelle wurde man auf ihn aufmerksam, verlieh ihm den Adlerorden und betraute ihn mit der Redaktion eines Bands des Generalstabswerks „Der Große Krieg in Einzeldarstellungen“. Der nur dreißig Jahre alt gewordene Autor hinterließ ein umfangreiches Opus, das in rund 1.500seitigen „Gesammelten Werken“ erschien, die zahlreiche Auflagen fanden. Ein Briefband kam hinzu.

Pathos von Flex ist heute fremd gewordenes Denken 

Was bleibt davon? Was von dem, was er für zahlreiche Deutsche verkörperte? Selbst unter Germanisten trifft man heute kaum noch einen, der eins seiner Bücher gelesen hat. In Fachzeitschriften stößt man vereinzelt auf (ideologiekritische) Aufsätze über den Weltkriegsdichter und seine Propagandafunktion. Danach steht Flex’ Name schlagwortartig für eine kriegsverherrlichende, Deutschland sakralisierende Belletristik, deren verklärende Erzählintention der veristischen von „Im Westen nichts Neues“ gegenübergestellt wird. Und man findet bei Flex auch manches, was heutigen „Friedenserziehern“ denunziationswürdig erscheint, nicht zuletzt die intensive Verquickung von Religion mit dem wehrhaft beglaubigten Anspruch einer deutschen Sendung. 

Darauf reagierten unsere fürsorglichen Kulturverwalter wie üblich „zivilgesellschaftlich“ mit Umwidmungen von Walter-Flex-Schulen oder -Straßen: exemplarisch in Bonn, wo stattdessen jetzt ein stets im Mainstream schwimmender Hans-Dietrich Genscher das Namensschild schmückt. Flex-Kasernen gibt es längst nicht mehr, was der „Säuberungs“-Furie von der Leyen die Chance nimmt, in Herkules-Pose einen weiteren vergangenheitsseligen Augiasstall auszumisten. Nun ist Fremdeln vor uns fremd gewordenem Denken allerdings keine ernstzunehmende Basis für Literaturgeschichte. Und so blättere ich in seiner Werkausgabe im Bemühen unvoreingenommener Wertung. 

Ich mustere historische Dramen oder Erzählungen wie „Zwölf Bismarcks“, „Klaus von Bismarck“ (beide 1913) oder „Wallensteins Antlitz“ (1916), etliche Novellen und Skizzen, das posthum edierte Romanfragment „Wolf Eschenlohr“ und nicht zuletzt Gedichtbände wie „Das Volk in Eisen“ (1914), „Sonne und Schild“ (1915). Fazit: Flex besitzt Talent. Manche szenischen Arrangements verraten Sinn für Konflikte. Ihre episodische Zuspitzung erinnert in den besten Passagen an Kleist („Der Überläufer“). Sein psychologisches Einfühlungsvermögen ist jedoch meist auf die heroische Sphäre begrenzt, und sei es als würdiges Sterben („Werner. Eine Studentennovelle“). 

Weltanschauungsdichtung dominiert. Dem Pathos fehlt manchmal Erdung. Der zuweilen allzu hohe Ton ermüdet wie eine vielfach archaisierende Wortwahl, in der es wallt, wabert und trutzt. Und während ab 1914 vornehmlich das MG regierte oder artilleristische Feuerkraft, so daß sein Schriftstellerkollege Robert Müller neue Vokabeln für den Industriekrieg forderte („Wir sind Frontleute“), erscheint bei Flex „ein Männervolk zum Ring gestellt“ und bietet „im grauen Eisenkleid“ seinen „Schwertgruß“. Insofern läßt sich bald nicht mehr verdrängen: Das ist 19. Jahrhundert, das hatte seine Zeit.

Tod im Grabenkampf als blinder Fleck seiner Ästhetik

Aufmerksamkeit verdient immerhin „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ als Werk von überwältigender Resonanz. Sie erklärt sich aus der erhöhenden Präsentation von Wandervogel-Idealen, die eine ganze Generation prägten. Auch die Stilisierung der Schlachten als Zarathustra-Mission, die Verquickung von Kampfgeschehen mit verdeckt homoerotischen Jünglingsschwärmereien und vieles mehr traf den Zeitstil. Darüber hinaus handelte es sich um klassische Trostliteratur, analog zu den „Kriegsbriefen gefallener Studenten“, einem weiteren damaligen Bestseller. Millionen Trauernder, vor allem Mütter, die den Verlust ihrer Söhne seelisch zu verkraften hatten, erhielten in diesem Buch eine sinnstiftende Argumentationshilfe. Die Gefühlsverbindung zur Leserschaft war deshalb so eng, weil Flex selbst mit dem Tod seines Kameraden Ernst Wurche ein ähnliches Trauma bewältigen mußte und hierfür ein letztlich selbsttherapeutisches Buch schrieb. 

In diesem Kontext deutet sich die zentrale Textstelle, wonach der „Heldentod eines Volkes“ nicht schrecklicher sei als der „Schwerttod eines Menschen“: „Nur das Sterben ist häßlich bei Menschen und bei Völkern. Aber wenn ein Mann den tödlichen Schuß, der ihm das Eingeweide zerreißt, empfangen hat, dann soll keiner mehr nach ihm hinsehen. Denn was dann kommt, ist häßlich und gehört nicht mehr zu ihm.“ 

Der literarisch akzeptierte Untergang eines Volkes – sowenig dies damals aus dem auch international Zeitüblichen hinausfiel – läßt sich vor allem nach den Erfahrungen von 1945 nur mehr mit forcierter historischer Einfühlung nachvollziehen. Für Flex spricht immerhin, daß er diese Haltung auch persönlich lebte: als Freiwilliger 1914, obwohl er wegen einer Sehnenschwäche der Hand untauglich gemustert war, als Offizier, der sich nach Beginn der Verdun-Offensive vergeblich zur Westfront meldete und noch 1917 einen Verbleib im sicheren Kriegspresseamt ausschlug. Ein bloßer Schreibtischheroe war er nicht.  

Doch literarische Meriten gründen vielfach auch auf künstlerischer Originalität. Und da erweist sich Flex’ bewußte Idealisierung, das Wegblenden, wenn gestorben wird, als blinder Fleck einer Ästhetik, die ihn von einem tatsächlich zeitgemäßen Kriegsautor wie etwa Ernst Jünger trennt – man vergleiche etwa dessen Tagebuchnotiz vom 28. April 1917. 

Was also bleibt? In erste Linie ein Gedicht, das durch Robert Götz’ Vertonung quasi zu einem prototypischen deutschen Lied geworden ist: „Wildgänse rauschen durch die Nacht“. Es lebt noch immer im Kollektivgedächtnis, weil es über seinen Anlaß hinaus von unterschiedlichsten Gruppen adoptiert wurde. Selbst im Hör-Conrady ist es vertreten. Schon in der Weimarer Republik wurde es sowohl von der bündischen Jugend als auch von katholischen Kreisen akzeptiert, wobei die Fahrt in „Kaisers Namen“ zuweilen durch „Deutschlands“ bzw. „Gottes“ ersetzt wurde. Heinos Version verzichtete, BRD-kompatibel, ganz auf die Schlußstrophe.

Das überparteilich Gemeinschaftsstiftende lag dabei in seiner melancholischen Offenheit. Kein Propagandatext liegt vor, sondern die glaubhafte Gestaltung des sorgenvollen Innewerdens einer mörderischen Bedrückung. „Was ist aus uns geworden?“ lautet die Grundfrage der „Verlorenen Generation“, auch von Hemingway, Remarque oder Adrienne Thomas. Besonders „sensible“ respektive engstirnige „Bewältiger“ monierten, die Analogie von Wildgänsen mit Heerzügen verleihe einer zivilisatorischen Schande natürliche Scheinlegitimität. Lassen wir die Bedenklichen in ihrem ideologiekritischen Kokon allein! Denn dieses Lied rauscht noch nach einem Jahrhundert im Gemüt wie die „unstete Fahrt“ der ziehenden Großvögel. Es klingt im Herzen der vielen, die es seit langem kennen, und derjenigen, die es erstmals hören und nicht umgehend politische Scheuklappen anlegen. Denn es kristallisierte in seinem Kern zu tendenzloser Poesie. 






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Historiker. Zuletzt publizierte er  „Literarische Musterung. Warum wir Kohlhaas, Don Quijote und andere Klassiker neu lesen müssen“ (Schnellroda 2017; JF 27/17).