© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Exodus unserer Denker
Der Westfale Joachim Frank bekommt den Nobelpreis für Chemie / Deutschland auf der Verliererseite?
Tobias Albert

Bis vor drei Jahrzehnten war der Nobelpreis in Chemie quasi auf Deutsche abonniert: Angefangen von Emil Fischer (1902), über Fritz Haber (1918) oder Carl Bosch (1931), um nur die bekanntesten zu nennen. Selbst als das NS-Regime 1935 das Annehmen des Nobelpreises verbot, wurden mit Richard Kuhn (1938), Adolf Butenandt und Otto Hahn (1944) weiterhin Deutsche ausgezeichnet. Und bis 1988 gab es zehn weitere Auszeichnungen für Erkenntnisse aus dem Chemiebereich, „die der Menschheit den größten Nutzen gebracht haben“, wie es in der Verfügung des Preisstifters Alfred Nobel heißt.

Danach haben eindeutig die USA die Führung in der Rangliste der Chemienobelpreisträger übernommen. Das bestätigt sich auch in diesem Jahr: Der diesjährige Nobelpreis in Chemie geht an drei Pioniere der Kryo-Elektronenmikroskopie, die die Beobachtung und Analyse von Zellen ermöglicht.

Versucht man mit einem gewöhnlichen Elektronenmikroskop, Zellen zu beobachten, so muß dies in einem Vakuum stattfinden. Denn die Luftmoleküle würden den Elektronenstrahl des Mikroskops so stark ablenken, daß das resultierende Bild verschwommenen wäre. Im Vakuum verflüchtigt sich aber das Wasser von Zellen, sie trocknen aus und fallen in sich zusammen: Man will eine Weintraube untersuchen, sieht aber nur eine Rosine.

Der 1940 im westfälischen Siegerland geborene Joachim Frank, der nach seiner Promotion an der TU München angesichts mangelnder Perspektiven in die USA auswanderte und schließlich Amerikaner wurde, holte das Bestmögliche aus den Elektronenmikroskopen heraus. Frank entwickelte einen Algorithmus, um aus vielen verschwommenen Einzelbildern ein scharfes, dreidimensionales Abbild herzustellen. Auch ohne ein Vakuum konnte man nun hochauflösende Bilder erstellen.

Der Schweizer Jacques Dubochet arbeitete gleichzeitig daran, biologische Objekte durch Schockfrosten für die Mikroskopie zu präparieren. Da Eis sich im Vakuum lagern läßt, kann man so die ursprünglichen Zellen und Moleküle beobachten. Problematisch waren hierbei Eiskristalle, deren Struktur die Zellwände deformieren. Durch die schnelle Abkühlung in Dubochets Methode hat das Eis aber gar nicht genug Zeit, Kristalle auszubilden, sondern wird zu einer gleichförmigen Masse, die das Objekt in seinem Ursprungszustand erhält.

Dem Briten Richard Henderson gelang die Synthese beider Ideen, und 1990 war er der erste, der ein Bild eines Proteins erzeugte, bei dem sogar die atomare Struktur dreidimensional sichtbar war. Seit 2013 wird die Technik auch in der Medizin vielfältig angewandt. Die Oberflächenstruktur des Zika-Virus und Proteine, die Antibiotikaresistenzen verursachen, wurden so schon untersucht. Denn neben dem Aufbau der Biomoleküle läßt sich auch ihre Funktionsweise abbilden, so daß Wissenschaftler genau verstehen können, was in den Proteinen und Zellen passiert.

Während deutsche Professoren wie Georg Karl von Hevesy (Chemienobelpreis 1943) oder der in Berlin geborene diesjährige Physiknobelpreisträger Rainer Weiss wegen ihrer jüdischen Herkunft nach 1933 aus Deutschland fliehen mußten, reiht sich Joachim Frank in die wachsende Liste deutscher Nobelpreisträger ein, die während ihrer wissenschaftlichen Karriere in die USA kamen und dort dank besser Forschungsbedingungen auch blieben: Theodor Hänsch (Physiknobelpreis 2005), Gerhard Ertl (Chemie 2007), Harald zur Hausen (Medizin 2008) und Thomas Südhof (Medizin 2013) hatten allesamt in Deutschland studiert, ihr nachfolgendes Forscherleben aber zu großen Teilen oder vollständig in die USA verlegt.

Führungsrolle bei Patenten im Auto- und Maschinenbau

Hochschulen wie die RWTH Aachen, die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, die TU und LMU in München bieten offenbar eine hervorragende Ausbildung an, doch die jungen Spitzenforscher können oft nicht in Deutschland gehalten werden. So beklagte schon 2014 die Expertenkommission Forschung und Innovation, daß Deutschland mehr publizierende Wissenschaftler durch Migration verliert als dazugewinnt – ganz anders als unsere Nachbarstaaten Schweiz, Österreich und Belgien, die ein positives Saldo aufweisen.

Es stellt sich die Frage, warum Forscher Deutschland verlassen. Das liegt zum einen daran, daß die Grenzen für Forscher – im Gegensatz zu Asylbewerbern (JF 41/17) – in den USA oder Kanada weit offen stehen. Ein hausgemachter Grund ist das deutsche Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das die maximale Beschäftigungsdauer von Forschern in befristeten Verträgen auf zwölf bzw. in der Medizin auf 15 Jahre begrenzt. Ausnahmen sind Projekte, die von Drittmitteln finanziert werden. Was eigentlich garantieren sollte, daß der akademische Nachwuchs genug Einstiegsstellen vorfinden kann, läßt nach Ablauf dieser Begrenzung Wissenschaftler in ein Quasi-Berufsverbot fallen. Denn noch immer gibt es kaum unbefristete Stellen im akademischen Mittelbau unterhalb der Professorenebene. Wer es nicht zur umkämpften Professorenstelle geschafft hat, steht vor den Trümmern seiner Existenz – und das mit Ende Dreißig auf dem Höhepunkt der eigenen Leistungsfähigkeit. Familiengründung? Bei so unsicherer Berufsplanung kaum vorstellbar.

Selbstverständlich kann nicht jeder Nachwuchsforscher auf eine Professur gehievt werden. Aber solange über neunzig Prozent aller Wissenschaftler in Deutschland nur befristet angestellt sind, davon zirka die Hälfte nur für maximal ein Jahr, ist es kaum verwunderlich, wenn die Besten scharenweise ins Ausland abwandern. Vorlesungsassistenten, Betreuer von Bachelorarbeiten oder Dozenten für spezialisierte Seminare sind allesamt mögliche Beschäftigungen für Forscher im akademischen Mittelbau, die eine permanente Stelle rechtfertigen würden.

Doch solange es kaum Arbeitsplätze dieser Art gibt, wird der Exodus der Denker aus Deutschland andauern. Ändert sich nichts, werden sich immer weniger Spitzenkräfte im Land halten lassen und Deutschland steht trotz seiner beeindruckenden Entdeckungsleistungen in der modernen Wissensgesellschaft auf der Verliererseite. Daß Deutschland dank forschungs- und finanzstarker Konzerne wie Bosch, Schaeffler, VW, Continental, ZF Friedrichshafen, BMW oder Daimler die unangefochtene Führungsrolle bei Patenten im globalen Automobil- und Maschinenbau hält, reicht nicht aus. Der Industriebereich Chemie/Pharma/Metalle/Kunststoffe ist – immer noch – unser mit Abstand wichtigster Exportsektor.

Nobelpreise für Chemie:  nobelprize.org