© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Der Fluch der Digitalisierung
Neben all den Erleichterungen kostet der technische Fortschritt auch viel Zeit und Nerven
Bernd Rademacher

An der Supermarktkasse geht nichts mehr. Der Scanner streikt. Die Kassiererin wird nervös. Ein Kollege tippt ratlos auf dem Display herum. Ich spotte: „Ist doch schön, wenn moderne Technik das Leben erleichtert.“ „Das können Sie laut sagen!“ stöhnt die Kassiererin. 

Streamen wird zur Geduldsprobe

Ist doch wahr:  All die Geräte, von denen uns die Werbung erzählt, daß sie unser Leben bequemer machen, haben uns fest im Würgegriff. Wieviel Lebenszeit verplempert man, weil der Download wieder ewig dauert, weil das Programm so langsam startet oder der Mailserver bockt.

Neulich auf der Landstraße: Der Wagen verliert plötzlich Leistung und fährt nur noch höchstens 40. Ist der Turbo kaputt, klemmt das Gaspedal? Früher brauchte man einen Mechaniker mit Schraubenschlüssel – heute einen Informatiker mit Laptop. Der muß den Bordcomputer neu starten, dann geht’s wieder.

High-Tech-Fernsehen ist auch nicht immer ein Vergnügen: Wer je versucht hat, diesen neuen DVB-T2-Receiver zu codieren, kann sich vorstellen, wie befreiend es sein muß, mal wie ein Rockstar einen Fernseher aus dem Fenster zu werfen. Die kabellosen Heimkino-Boxen am besten gleich hinterher, weil anstatt des gepriesenen Klangerlebnisses nur Geknarze herauskommt, da einige Wände dann doch vielleicht etwas zu dick sind. 

Dasselbe gilt für den Rechner, wenn der Livestream mal wieder ruckelt und abbricht oder der Computer selbständig damit anfängt, nicht nur die Software zu aktualisieren, sondern auch gleich alle Tablets und Smartphones im Raum zu synchronisieren. Hat man bei der Einrichtung der „Cloud“ angesichts des ganzen Fachchinesisch nicht die richtigen Einstellungen gewählt, hat man dann zahlreiche Fotos, Notizen und Lieder doppelt auf seinen Geräten. Das erneute Sortieren und Löschen frißt erneut kostbare Zeit. Minutenlang einer Pixel-Sanduhr zuzuschauen, wird zur Zen-Meditationsübung.

Hinzu kommen die neuen Verhaltens-ticks der digitalen Nomaden. Das Essen wird kalt, weil man es erst noch „instragrammen“ will. Abends kommt man nicht in den Schlaf, weil permanent mit einem „Ping“ unwichtige Nachrichten eingehen und man vor lauter aufblinkenden Mitteilungsfeldern gar nicht mehr genau weiß, in welche Richtung man diese jetzt auf dem Display „wegwischen“ kann. Und im unpassendsten Augenblick ruft garantiert irgendein Callcenter-Fuzzi an, der einen neuen Handyvertrag anpreisen will, der auch ganz toll mit dem neuen HD-Fernsehpaket kombinierbar sei: Aaargh!

Die Handyhersteller haben es zwar zur Freude der Adapterindustrie bisher nicht geschafft, sich auf einen einheitlichen Ladekabelstecker zu einigen, aber offensichtlich darauf, daß der Akku bei jeder neuen Gerätegeneration noch ein Stündchen früher aufgibt. Einige Supermarktfilialen haben übrigens darauf reagiert und bieten kostenlos Schließfächer mit den unterschiedlichen Handyladestationen an. Während ich also mit dem Einkaufswagen durch die Regalgänge kurve, kriegt mein Mobiltelefon wieder einen Akku-Balken. Das sollte es auch in Behörden und in öffentlichen Verkehrsmitteln geben. Ist man dagegen mit dem eigenen Auto unterwegs, finden immer mehr Menschen ohne Navi nicht mal mehr den nächsten Briefkasten. Bald kommen auch noch die „intelligenten“ Stromzähler dazu, die analysieren, wann wir wie lange welches elektrische Gerät in der Wohnung nutzen und den Befund per Internet an unseren Energieversorger melden.

Als mehrten sich nicht die Bedenken, der vermeintliche Fortschritt etabliere den „gläsernen Bürger“, gibt es tatsächlich Leute, die ganz versessen sind auf die Vision von einem „Smart Home“, in der der Kühlschrank automatisch online Lebensmittel bestellt, wenn der Vorrat knapp wird. Unter der Voraussetzung, daß das W-Lan gerade mal wieder nicht spinnt. Das Pannen-Potential ist unendlich! Viel Spaß, wenn die Haustür nicht mehr aufgeht, weil es ein Zugriffsproblem mit der Gesichtserkennung gibt, oder man das Paßwort in dem ganzen Wust aus Dutzenden Codes gerade nicht parat hat. 

Meine Nachbarin hat letztens eine ordentliche Beule am Kopf davongetragen, weil sie vergessen hatte, daß das Terrassen-Rollo von der Zeitschaltuhr gesteuert wird und sie darunter saß, als die schwere Jalousie pünktlich herniederrasselte.

Wie hat man eigentlich früher gelebt in der prädigitalen Vorzeit? Als man Urlaubsfotos ins Album einklebte, statt in die Wolke hochzuladen. Und wieviel Zeit hatte man damals, um in einem Buch zu blättern, statt auf einen Bildschirm zu glotzen, auf dem der angezeigte Installationsbalken sich nicht zu bewegen scheint? Der technische Fortschritt bringt in vielen Bereichen enorme Erleichterungen, doch er verkompliziert auch unser Leben – bis zum nächsten Stromausfall.