© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Die ewig rote Utopie
Das Einfache, das schwer zu machen ist: Der Historiker Gerd Koenen hat 100 Jahre nach der russischen Oktoberrevolution eine in Gehalt und Umfang voluminöse Weltgeschichte der immer noch virulenten Idee des Kommunismus vorgelegt
Wolfgang Müller

Die Russen, unkte Joachim Fernau zur Hochzeit des Kalten Krieges, sind schon ein sonderbares Völkchen. Feiern ihre Oktoberrevolution im November. Eine Revolution, die überdies gar keine war, sondern ein relativ unblutiger Staatsstreich. Die eigentliche Revolution hatte schon im Februar 1917 stattgefunden. 

Das wiederum war eine klassisch-bürgerliche Revolution, die mit der Abdankung des Zaren und, nach 300jähriger Herrschaft, mit dem Untergang der Romanow-Dynastie endete. Deren Todfeind, der sein ganzes Leben auf ihren Sturz hingearbeitet hatte, in der Entscheidungsstunde aber als Emigrant in Zürich hauste, erfuhr davon aus der Zeitung. Um seine lang ersehnte proletarische Revolution doch noch ins Werk setzen zu können, mußte Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, die Hilfe Kaiser Wilhelms II. in Anspruch nehmen, den er zwar haßte wie den Zaren, dessen Generäle aber allein die Macht besaßen, ihn im legendären plombierten Zug von Zürich nach Sankt Petersburg zu verfrachten.

Dort im April 1917 angekommen, agierte der Berufsrevolutionär monatelang eher dilettantisch, phasenweise mit Perücke, sogar komödiantisch, bevor er, alle Friktionen und Improvisationen im Kampf gegen die bürgerliche Kerenski-Regierung hinter sich lassend, am 25. Oktober 1917 – nach dem in Rußland noch geltenden julianischen, dem 7. November im gregorianischen Kalender, der im übrigen Europa verbindlich war – mit dem Sturm auf den Petersburger Winterpalast die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ auslöste.

Nichts an diesem Vorgehen gehorchte dem marxistischen Lehrbuch, dem zufolge ein Agrarstaat wie Rußland, mit dünner „Kapitalisten“-Schicht und einem „Proletariat“ aus kümmerlichen zwei Millionen Industriearbeitern, der „Klassenkampf“ längst nicht das erforderliche Reifestadium erreicht hatte, um gesetzmäßig in eine Revolution der Arbeiterklasse umzuschlagen. Als entsprechend unmarxistisch verurteilten daher selbst bolschewistische Mitstreiter Lenins „Putschismus“. Noch weniger mit den „streng wissenschaftlichen“ Vorgaben des Erzvaters Marx vertrug sich die tragende Rolle, die das auf die „Weltrevolution“ zusteuernde Kraftpaket Lenin seit dem Winter 1917 spielte. Denn offensichtlich determinierte nicht die materielle Lage der Massen den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern es „machten Männer Geschichte“ (Heinrich von Treitschke) – einer vor allem, Uljanow, das hegelsche „welthistorische Individuum“ par excellence.             

Wie hier angedeutet, genügt also eine Rückbesinnung auf Reste des Abiturwissens über die Russische Revolution, um sofort in einem Dschungel von Widersprüchen zu landen. Wer sich dort wohl fühlt, ist der ideale Leser von Gerd Koenens tausendseitigem Wälzer zur Geschichte des Kommunismus. Das ist keine moralisierende Anklageschrift, kein abrechnendes „Schwarzbuch“, obwohl von Terror und Massenmord ausgiebig die Rede ist, wenn auch Lenin, der Einpeitscher der Tscheka, getreu altlinker Lesart weitaus besser wegkommt als paranoide Schlächter wie Stalin oder Mao. 

Überhaupt bietet Koenen mehr eine kompendiöse Ideen- als die Realgeschichte des Kommunismus. Das eröffnet weite Horizonte, zeitlich und räumlich. Der Verfasser, der den bewunderten Bibliotheksbewohnern Marx und Lenin, mit ihrem „enzyklopädischen Wissenshunger“ und ihren universalgelehrten Ambitionen, durchaus kongenial nacheifert, beginnt deswegen buchstäblich bei Adam und Eva. Genauer gesagt mit dem 1.000 Jahre älteren Gilgamesch-Epos, das den alttestamentarischen Mythos vom Paradies, die antiken Sagen vom Goldenen Zeitalter, den christlichen Millenarismus genauso vorweg nahm wie die von Marx und Engels verheißene klassenlose Gesellschaft, das Reich der Freiheit. Die Faszination durch die  größte aller „Großen Erzählungen“, den in allen Hochkulturen geträumten Traum vom Ende der Entzweiung, vom möglichst ewigen seligen, rundum glücklichen Leben, vom Paradies auf Erden, verfolgt Koenen über 8.000 Jahre hindurch von den ursprungsmythischen Tiefen menschlicher Evolution bis zu den zivilisatorischen Höhen des 21. Jahrhunderts.

Koenens eigene große Erzählung entgeht der Gefahr, in ein dröges Kompendium zahlloser Sozialutopien abzugleiten, deren Urheber Karl Raimund Popper zufolge allesamt „Feinde der offenen Gesellschaft“ waren. Stattdessen konzentriert sich Koenen auf die konstanten Widrigkeiten bei der Umsetzung der Theorie in die Praxis, wobei das grandiose Scheitern des sowjetrussischen Experiments im Mittelpunkt seiner Darstellung steht, die eindrucksvoll Bertolt Brechts lakonisch formulierte Einsicht bestätigt, daß das Einfache schwer zu machen ist.

Die vielleicht etwas zu rigorose Vermeidung jeder Marx-Kabbalistik trägt wesentlich dazu bei, dieses Geschichtswerk permanent oberhalb des bloß antiquarischen Niveaus zu halten. Didaktisch geschickt wird so verhindert, der Illusion zu verfallen, mit dem welthistorischen Abgang Sowjetrußlands sei der kommunistische Traum geplatzt und das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) unter der Ägide des globalisierten Neoliberalismus eingeläutet. 

Gegen solche Kurzschlüsse muß Koe-nen, der keineswegs, wie ihm der Status-quo-Schönredner Herfried Münkler unterstellt (FAZ vom 30. September), im nostalgischen Rekurs das definitive Ende der Geschichte des Kommunismus verkündet, nicht erst auf das postmaoistische China verweisen, wo mit der Synthese von kapitalistischer Ökonomie und kommunistischem Etatismus ein starkes Gegengewicht zum westlichen Radikalkapitalismus entstanden ist. Viel überzeugender noch ist das Argument, daß die vierte, globale Industrialisierung unter dem Ausbeutungsregime des US-Finanzkapitalismus die alten Probleme, die Marx’ „Kritik der politischen Ökonomie“ thematisiert, in neuem Gewand aufwirft. 

Schon die realexistierende, in den westeuropäischen und nordamerikanischen Mittelschichten Platz greifende „Lohn- und Schuldsklaverei“ erinnere wieder an Friedrich Engels’ düstere Impressionen aus der Pionierzeit des Manchesterkapitalismus. Zu schweigen von den „ganz- oder halbsklavischen Arbeitsregimes in den industriellen Schwellenländern und den Ländern, die diese Schwelle noch längst nicht erreicht haben“. Die entscheidenden Marxschen Themen, vor allem die elementare Frage, ob die Menschen der Wirtschaft zu dienen haben oder ob es nicht umgekehrt sein sollte, „diese Themen sind nicht nur nicht erledigt, sondern stellen sich vielleicht erst jetzt wirklich und praktisch“, da John Maynard Keynes schon 1930 befand, das wirtschaftliche Problem der Versorgung einer (nicht explodierenden) Weltbevölkerung sei eigentlich gelöst. Nur das Einfache, die Verteilung des Reichtums, ist eben „schwer zu machen“.

Gerd Koenen: Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 1.133 Seiten, Abbildungen, 38 Euro