© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Hochgeehrter Gedankenverbrecher
Der Historiker Gareth Stedman Jones hat eine beeindruckende Biographie von Karl Marx vorgelegt – und liefert damit eine weitere Huldigung des Schreibtischtäters
Konrad Löw

Mitten im Herzen der Bundeshauptstadt, nahe dem Alexanderplatz, thront, aus Erz gegossen, Karl Marx. Neben ihm steht ehrfürchtig sein Juniorpartner Friedrich Engels. Errichtet hat das Monument die Deutsche Demokratische Republik, das andere Deutschland.  

Die Bundesrepublik Deutschland ist stolz auf ihre freiheitliche demokratische Grundordnung, deren unverzichtbare Bestandteile von der DDR-Wirklichkeit  Punkt für Punkt negiert wurden: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie („Diktatur des Proletariats“), Wahlen. Die sogenannten Wahlen boten dort keinerlei Auswahlmöglichkeiten.

Bilderstürmerei gehört zum Alltag der Bundesrepublik. Welcher früher ehrwürdige Patriot wird die Stürme der weithin vaterlandslosen Gegenwart überdauern? Doch am Marx-Monument wird nicht gerüttelt. Das bevölkerungsreichste Land der Erde, die Volksrepublik China, will sogar diesem Deutschen ein Standbild errichten, dem namhaftesten Kommunisten – zweihundert Jahre nach dessen Geburt  am 5. Mai 1818, dort wo sie stattfand, in Trier.

Wäre Marx ein „Beethoven“ gewesen oder ein „Goethe“, die Verehrung in beiden Teilen Deutschlands hätte kaum Kopfschütteln verursacht. Aber Marx wird nicht als Schöngeist, nicht als Musiker oder Maler, nicht als segenspendender Naturwissenschaftler verehrt, sondern als politischer Denker. 

Das wirft schwerwiegende Fragen auf: Hat die DDR nicht gewußt, wen sie da an heiliger Stätte verehrt? Einen Dissidenten, gar einen Klassenfeind? Oder erweist die Bundesrepublik einem Mann die Reverenz, der als Schreibtischtäter mitverantwortlich ist für das schier maßlose Leid, das der Kommunismus weltweit zu verantworten hat? Millionen gibt der Staat des Grundgesetzes dafür aus, damit zur höheren Ehre von Marx ein Papierturm sondergleichen errichtet wird, nämlich die Marx-Engels-Gesamtausgabe, abgekürzt MEGA.

Bleibt noch eine dritte Möglichkeit: War Marx ein Schwätzer, ein Mann, der sich selbst meinte, als er schrieb: „Alles sag ich Euch ja, weil ich ein Nichts Euch gesagt“? Oder, vornehmer ausgedrückt, war er ein Dialektiker, der seinem Freund gegenüber das Geheimnis seines Erfolges preisgegeben hat? Wörtlich: „Ich habe natürlich meine Aufstellung so gehalten, daß ich im umgekehrten Fall auch recht habe.“ 

Die DDR hat ihn als „größten Sohn des deutschen Volkes“ verehrt. 3,3 Millionen Zuschauer haben sich 2003 an der Abstimmung zu „Unsere Besten“ im Zweiten Deutschen Fernsehen beteiligt. Für Karl Marx stimmten über eine halbe Million, was ihm – nach Konrad Adenauer und Martin Luther – Rang drei einbrachte. Die Bewohner der neuen Bundesländer halten Marx mehrheitlich sogar für „unseren Besten“. 

Gelingt es dem britischen Historiker Gareth Stedman Jones mit seinem gewaltigen Werk, diesen zentralen Widerspruch, eine geistesgeschichtliche Wurzel unseres Grundgesetzes betreffend, zu entwirren? Die unvollständige Liste der einschlägigen Forschungsliteratur füllt elf Seiten zu je rund zwanzig Veröffentlichungen. Darunter ist keine, die Stedman Jones an Dichte der Darstellung übertrifft. Dem Leser dürfte sich jedoch mitunter die Frage aufdrängen, ob der Untertitel nicht besser „In seiner Zeit“ lauten sollte statt „Die Biographie“. Darüber ließe sich trefflich streiten. Beschränken wir uns auf Marx und die rohe Gewalt. Defizite sind zu monieren. Hier einige in der gebotenen Kürze:

„Das Manifest gilt bis heute zu Recht als Karls eindrücklichster Text“, schreibt Stedman Jones. In der Tat: Es ist das meistgedruckte politische Pamphlet, knapp dreißig Seiten stark. Doch der Hauptherausgeber von „Das Schwarzbuch des Kommunismus“, Stéphane Courtois, mußte einräumen, daß er „Das Manifest“ nicht bis zum Ende gelesen hat, sonst hätte er Marx nicht gegen den Vorwurf verteidigt, Schreibtischtäter gewesen zu sein. Denn da heißt es: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ Geht es krasser?

Über „Das Kapital“ schreibt Stedman Jones: „Der außerordentliche Faktenreichtum, die Verbindung von Statistiken, amtlichen Berichten und Schilderungen (...) bleibt beeindruckend.“ Bluttriefende Gewalt beschließt das so harmlos beginnende Werk: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht“, heißt es da. Daß schon der junge Marx als „Vernichter“ wahrgenommen wurde, gehört das nicht in seine Biographie? Im Abituraufsatz hat keiner der Klassenkameraden das Wort „vernichten“ gebraucht, Karl jedoch an sechs Stellen. Noch kurz vor seinem Tod 1883 ist für ihn die Ermordung des Zaren – das Attentat auf Zar Alexander II. war gerade zwei Jahre vergangen – kein moralisches Problem.

Ohne Engels kein Marx! Diese Feststellung wird Seite für Seite bestätigt. Doch welche Rolle spielte Geld, als es darum ging, Marx einen Stammplatz im Hergottswinkel der frühen SPD zu sichern? Nicht nur die Partei wurde mit Spenden bedacht, sondern auch einzelne ihrer Führer. „Geld regiert die Welt.“ Davon ist leider nicht die Rede. 

Der Epilog endet mit dem bedenkenswerten „Eindruck, daß den Marx, wie ihn das 20. Jahrhundert schuf, mit dem Marx, der im 19. Jahrhundert lebte, nur eine zufällige Ähnlichkeit verbindet“. Dem Mythos Marx wird nach wie vor gehuldigt!

Gareth Stedman Jones: Karl Marx. Die Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, gebunden, 896 Seiten, Abbildungen, 32 Euro