© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Frisch gepresst

Oktoberrevolution. Es hätte schlimmer kommen können mit Stefan Bollingers Geschichte der Machtergreifung Lenins und der ersten, von Bürgerkrieg und Hungertod geprägten Herrschaftsjahre des Bolschewismus. Schlimmer, weil Bollinger als Historiker und Wissenschaftsfunktionär im Dienst der SED-Nachfolger Die Linke steht, wo „Parteilichkeit“ als Forschertugend gilt. Die stellt er hier zwar reichlich unter Beweis, wenn er permanent Brücken in die Gegenwart schlägt, um zu verstehen, warum das Sowjetsystem schließlich scheiterte und den Weg freigeben mußte für die „Wiedererrichtung von Ausbeutungsverhältnissen“ im einstigen Ostblock. Diese nervigen Versuche, Zahnpasta in die Tube zurückzudrücken, sind jedoch eingebettet in eine erfreulich ausgewogene Sozialismus- und Kapitalismuskritik. Die sich leider ganz unmarxistisch an realitätsfernen „basisdemokratischen“ Infantilismen orientiert, um sich den sympathisch berührenden Traum von der „allgemeinen Kultivierung des Menschen“ nicht zerstören zu lassen. (ob)

Stefan Bollinger: Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917–1922, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2017, broschiert, 224 Seiten, 14,99 Euro





Demokratietherapie. Mit seinem neuen Buch hat Pierre Rosanvallon, Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Pariser Collège de France, sein dreibändiges Werk über den Strukturwandel der zeitgenössischen Demokratien abgeschlossen. Während der Verlag es als ein „Standardwerk der Demokratieforschung“ bezeichnet, skizziert Rosanvallon eher eine Art Demokratietherapie – wenn er selbst seinen vielversprechenden Ansatz nicht erheblich begrenzen würde. Vielversprechend ist sein Versuch, die Formen des Mißtrauens und des Widerstands gegen die jeweils repräsentative Elite als konstruktiven Teil der Demokratie zu betrachten und zu integrieren. Mit „Gegen-Demokratie“ meint der Autor nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern ihr ständiges Korrektiv. Drei theoretische Prämissen aber nehmen Rosanvallons Ansatz jegliche Spannung: Er zieht die Gleichheit der Freiheit entschieden vor, er disqualifiziert partikulare Themen im Vergleich zu globalen als „unpolitisch“, und er sieht das demokratische Heil in einer Art öffentlicher und totaler Dauerreflexion. Zugleich kommen die entscheidenden undemokratischen Prozesse der Gegenwart gar nicht vor. Ihnen hat Rosanvallons Demokratietherapie nichts entgegenzusetzen. (al)

Pierre Rosanvallon: Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Mißtrauens, Hamburger Edition, Hamburg 2017, gebunden 317 Seiten, 35 Euro





K.u.k.-Herrlichkeit. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1990 kehrten Regionen hinter dem Eisenen Vorhang wieder ins Bewußtsein vieler Westeuropäer zurück, eine „zweite Entdeckung des Ostens“ (Karl Schlögel) begann. Riga, Wilna oder Lemberg waren plötzlich wieder „Ostmitteleuropa“. Der aus der Westukraine stammende Roman Dubasevych untersucht in seiner Dissertation, wie auch die Bewohner seiner Heimat ihr Bewußtsein änderten und die Erinnerung an die Habsburger Monarchie wachriefen, als der Blick aus Galizien oder der Bukowina nach Wien und nicht nach Kiew oder gar Moskau gerichtet war. Mit dem Konflikt in der Ostukraine seit 2014 hat diese Haltung sogar noch an Intensität gewonnen. (bä)

Roman Dubasevych: Zwischen kulturellem Gedächtnis, Nostalgie und Mythos. Böhlau Verlag, Wien 2017, broschiert, 351 Seiten, Abbildungen, 80 Euro