© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Intellektueller Verrat
Anne Hartmann hat die Stalin-Verherrlichungsprosa des Schriftstellers Lion Feuchtwanger dokumentiert, der 1937 die Sowjetunion bereiste
Günter Scholdt

Von Dezember 1936 bis Februar 1937 weilte der deutsch-jüdische Schriftsteller Lion Feuchtwanger als Stargast in Moskau. Die Reise des seinerzeit weltweit Prominenten war ein Politikum ersten Ranges. Denn kurz zuvor hatte ein anderer berühmter Romancier, André Gide, Eindrücke von der Sowjetunion publiziert, in denen neben Positivem auch von großer Armut, Unterversorgung, antisozialistischen Privilegien, Angstherrschaft à la Hitler, Vergötzung Stalins, bürokratischer Diktatur und geistiger Uniformität die Rede war. 

Feuchtwanger hingegen enttäuschte seine Gastgeber nicht. In der Presse und im Radio pries er die Sowjetunion als Hoffnungsland des sozialen Fortschritts, der Vernunft, des technisch-architektonischen Aufbaus. Er lobte Stalin als allseits geliebten wahren Volksvertreter, „wie ihn sich der Dichter nicht würdiger ausdenken“ könne, und besuchte einen Schauprozeß gegen frühere bolschewistische Führungskader, deren Schuld er „schon jetzt zum bedeutenden Teil für erwiesen“ hielt. 

Er polemisierte gegen Gide als „übersättigten Ästheten“, der das dynamische Werden des Landes nicht erfaßt habe. Er sah in der Sowjetunion den „Traum von der Internationale des Geistes“ als Gelehrtenrepublik verwirklicht oder feierte die neue SU-Verfassung, die „erstmals in der Geschichte der Menschheit die faktische Freiheit und Gleichheit ihrer Bürger zu ihrem Grundgesetz“ mache.

Kurz: Stalins „Hofpoet“, wie ihn selbst der Feuchtwanger ursprünglich zugetane Mitemigrant Felix Graham nannte, erfüllte viele Erwartungen der Moskauer Betreuungskader, die ihn über Wochen hofiert und geschäftlich (durch rund 40 Vertragsabschlüsse) gefüttert hatten. Mehr noch: Resistent gegen Kritik, publizierte der ins französische Exil Zurückgekehrte noch im gleichen Jahr seine Reiseimpressionen in Deutsch, Englisch, Russisch und Spanisch. Das Buch hieß „Moskau 1937“, wurde von Kommunisten erwartungsgemäß gefeiert, stieß aber in liberalen Kreisen der westlichen Emigration auf Kopfschütteln und Ablehnung.

Achtzig Jahre danach liegt hierüber nun eine 450-Seiten-Dokumentation vor. Sie enthält etwa eine (aus Briefen, Berichten und Tagebuchnotizen gefertigte) umfangreiche Chronik, Feuchtwangers Moskauer Stellungnahmen, Rezensionen seines Buchs, Geheimdienstdossiers sowie eine detaillierte Einführung durch die Herausgeberin Anne Hartmann. Das Urteil über den Band pendelt zwischen Bewunderung für eine beträchtliche editorische Leistung und Befremden über den erbrachten forschungspolitisch bezeichnenden Kosten- und Arbeitsaufwand. 

Denn die Musterung der nicht selten unappetitlichen Dokumente – Belege von Verblendung, intellektueller Wichtigtuerei und Menschheitspathos vor dem Hintergrund einer totalitären Kloake – setzt eine universitäre Zeitreise in Gang, zurück in die 1970er bis frühen 90er Jahre. Auch damals wurde dergleichen vielfach mit brennendem parteinehmendem Interesse traktiert. Und auch bei dieser Lektüre wünschte man sich zuweilen ein würdigeres Objekt für einen derartigen literarhistorischen Kraftakt. 

Damit zu Hartmanns kompetentem, gut lesbaren Vorwort. Einfühlsam und anschaulich wird es den komplexen Gefühlslagen und Motiven des Autors vielleicht gerechter als alles bisher über ihn Geschriebene. Nur klingt etwas Wichtiges eher in Nebensätzen (zum Beispiel über die verhaftete Schauspielerin Carola Neher) an: die Seite der Opfer. Schließlich brachten jene Jahre eine Terrorherrschaft bislang ungekannten Ausmaßes und grausiger Absurdität. Denn über den Massenmord an verfemten Klassen hinaus inszenierte man hier sogar noch die größte Kommunistenverfolgung aller Zeiten mit einer Million betroffener Parteigenossen. 

Man darf der Editorin wohl nicht unterstellen, daß sie dies bagatellisieren wollte. Aber ihre von vertieftem Verständnis für den Autor getragene Seelenschau schreit geradezu nach einem Leser, der als Staatsanwalt mit aller Deutlichkeit die Gegenperspektive vertritt. 

Denn ein Kavaliersdelikt war Feuchtwangers propagandistisches Machwerk mitnichten, das einen Schreckensstaat verklärte und dessen Kritiker denunzierte. Man mag den rassisch gefährdeten Autor damit entschuldigen, daß er die gewünschte Volksfront gegen Hitler unterstützen wollte und letztlich nach der Devise handelte: Meines Feindes Feind ist mein Freund. Er nahm mit solcher skrupellosen Apologie jedoch in Kauf, daß seine Zeugenschaft die Glaubwürdigkeit von Literaten und Intellektuellen generell beschädigte. Und sie tat es besonders durch die provozierende Scheinrationalität, mit der er jeden Zweifel am Moskauer Regime quasi argumentativ ausräumte.

Wenn Feuchtwanger aber, wie abgedruckte Geheimdienstberichte nahelegen, westliche Vorwürfe teils wider besseres Wissen zurückwies, weil er, mehr als öffentlich bekannt, hinter die schöne Fassade des Regimes schaute, versündigte er sich an denen, die noch künftig gut fünfzig Jahre solchen Totalitarismus ertragen mußten oder ihn in Unkenntnis förderten. Und mit ihm taten es jene Apologeten oder Gesinnungskumpane von „Moskau 1937“ wie Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann, Anna Seghers, Emil Ludwig und Dutzende mehr, deren vergleichbar peinliche prosowjetische Rabulistik sie als „nützliche Idioten“ in Lenins Sinne erwies. Dabei spielten alle Genannten einer instrumentalisierten Öffentlichkeit in Teilen etwas vor, was sie privat im praktischen Leben besser wußten. Schließlich wählten diese sowjetischen Menschheitsbeglücker, bei denen heute niemand auf die Idee käme, ihnen gewidmete Straßen umzubenennen, als Exilort keineswegs Moskau. 

Es waren eben typische, durch die Einstiegsdroge „Marxismus“ angefütterte Intellektuelle mit jenem schizophrenen Wahrheitsbegriff, der das Schlagwort „engagierte Literatur“ häufig so desavouiert. Und sie waren nicht einmal gänzlich zynische Pragmatiker, die den russischen Bären durch seine blutige Tatze zum idealen Schutz vor dem grausigen deutschen Wolf ausersehen hatten. Sie bedurften vielmehr vor sich selbst jener Lebenslüge einer fast schon verwirklichten Globalutopie, die ihr Handeln scheinbar objektivierte und moralisch legitimierte. Ihre Anmaßung eines techno- und postdemokratischen Elitebewußtseins schloß den geistigen Verrat als Teil der Politstrategie ein. 

Der Intellektuelle als Politiker, der Informationen interessengemäß im Sinne der Macht steuert – ein vielfach aufgeführtes Satyrspiel! Wir könnten die historischen Akten darüber gnädiger schließen, wenn jene Praxis „fürsorglicher“ ideeller Priesterherrschaft nicht auch unseren Zeitgeist prägte. 

Anne Hartmann: „Ich kam, ich sah, ich werde schreiben.“ Lion Feuchtwanger in Moskau 1937. Eine Dokumentation. Wallstein Verlag, Göttingen 2017, gebunden, 456 Seiten, 39 Euro