© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Die Gegensätze verschärfen sich
Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta entwirft angesichts des immer einflußreicheren Fundamentalismus ein düsteres Zukunftsbild der muslimischen Welt
Gabriel Burho

Wilfried Buchta sucht nach einer Erklärung, warum radikale Kräfte in der islamischen Welt immer mehr an Einfluß gewinnen. Dabei setzt er mit dem Schicksalsjahr 1979 an, in dem sich sowohl der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, die Besetzung der großen Moschee in Mekka durch Extremisten und die Revolution im Iran ereignete. 

Vor allem die iranische Revolution habe den alten Bruch zwischen Sunniten und Schiiten weiter befördert und der einsetzende Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft die Region weiter destabilisiert und die Lage für die verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten weiter verschlechtert. Der „Arabische Frühling“ hat bestehende diktatorische Ordnungen teilweise beseitigt, ohne daß neue Ordnungssysteme sich an ihrer Stelle plazieren konnten. 

Mit der Entfernung Saddam Husseins und damit dem Wegfall des Irak als Pufferstaat zwischen der iranischen und saudischen Einflußsphäre haben die USA in erster Linie Teheran gestärkt und, mittels demokratischer Wahlen, die schiitische Mehrheit des Landes an die Macht gebracht. Die folgende Unterdrückung der sunnitischen Minderheit ist letztlich einer der Erfolgsfaktoren des IS gewesen. Buchta zufolge ist eine Teilung des Irak in einen sunnitischen, kurdischen und schiitischen Teil als Folge unumgänglich.

Schon der Vordenker des IS, Abu Musab az-Zarqawi, legte den Fokus seiner Aktionen auf eine Verschärfung der konfessionellen Konflikte innerhalb des Islam. Mit dem Aufstieg und den Aktionen von ISIS scheint der sunnitisch-schiitische Gegensatz aktuell nahezu unauflöslich verschärft worden zu sein. 

Buchta vertritt die Ansicht, daß es vor allem diese theologischen Gegensätze seien, welche die Politik der Region prägten und daß die zentrale Rolle der Religion vom Westen sträflicherweise immer noch vernachlässigt werde. Hier ist ihm unumwunden zuzustimmen, und der Westen wäre gut beraten, sich mehr auf weniger quantifizierbare Faktoren wie Ideologie und Glauben zu konzentrieren als auf  globale Armutsindizes. Leider schießt Buchta aber mit seiner Philippika über das Ziel hinaus. Seine Wertung der Religion hat beinahe etwas Theologisches und macht daraus die fast alleinige Triebfeder der Entwicklung der Region. 

Zur Frage der Vereinbarkeit von islamischer Lehre mit westlichen Demokratievorstellungen positioniert sich Buchta, mit Verweis auf die Doppelfunktion Mohammeds als Prophet und Staatsoberhaupt, kritisch. Hier gälte es, Faktoren wie Globalisierung und wirtschaftliche Perspektiven der Menschen in den Blick zu nehmen, beweist doch die islamische Geschichte, daß Pluralität und eine ausgeprägte Ambiguitätstoleranz viele Jahrhunderte geradezu charakteristisch für islamische Herrschaften war. Die islamische Welt befinde sich heute in einer Art „vorwestfälischer“ Ordnung. Dabei arbeitet er heraus, warum es islamischen Gelehrten aller Couleur so schwerfällt, den extremen Positionen der „Strenggläubigen“ etwas entgegenzusetzen – können diese doch schlagkräftig mit dem prophetischen Vorbild punkten.

Buchtas kurzer und gut zu lesender Essay schließt mit dem Versuch einer Vorhersage der politischen Entwicklung in den nächsten zehn Jahren, die sich bereits in einigen Kernpunkten überholt hat. Überhaupt nimmt er, in seinem Versuch die westliche Politik wachzurütteln, für jeden Fall die schlimmste mögliche Wendung an. Dazu paßt Buchtas Schilderung über die offensichtliche Ohnmacht muslimischer Reformer und liberaler Politiker, der er ein ganzes Kapitel widmet, und die immer häufiger gezwungen sind, ihre Heimatländer zu verlassen – derzeit. Inwiefern dies allein eine verläßliche Analyse ist, sei dahingestellt. Hilfreicher wären hier sowohl ein Best-, Worst- als auch ein Most Likely Szenario.

Auch über den Ausgangspunkt des Buches könnte man diskutieren. Denkbar wäre auch die Kampagne Napoleons in Ägypten sowie die englische Eroberung Indiens, die den Muslimen deutlich vor Augen führte, daß sie technisch und wissenschaftlich abgehängt waren und sie in Kontakt mit der christlichen „Sola Scriptura“-Lehre brachte. Die Idee, daß eine heilige Schrift nur aus sich selbst heraus verständlich sein müsse, wurde schnell von vielen theologischen Laien aufgegriffen und zur Beantwortung der Frage nach dem Grund der islamischen Rückständigkeit herangezogen – man hatte vergessen, den im Koran deutlichen Befehlen Gottes zu folgen.

Wilfried Buchta: Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt. Hanser Verlag, München 2017, broschiert, 240 Seiten, 20 Euro