© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Ein grüner Verantwortungsethiker
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer versucht, mit der Überzeugungskraft von Fakten herrschende „Diskursblockaden“ aufzulösen
Michael Paulwitz

Boris Palmer ist im grünen Einerlei eine Ausnahmeerscheinung. Das liegt daran, daß er als Oberbürgermeister einer schwäbischen 90.000-Einwohner-Universitätsstadt an der vordersten Front der Tagespolitik steht, dort, wo die handfesten Folgen weitreichender Entscheidungen, die in den luftigen Höhen abgehobener Polit-Etagen getroffen werden, ganz konkret ausgebadet werden. Wie zum Beispiel die Aufnahme, Unterbringung und Eingliederung von Hunderttausenden als „Flüchtlinge“ einfach mal so ins Land gelassenen illegalen Einwanderern aus fremden Kulturkreisen.

Palmer könnte es sich trotzdem einfach machen, die Augen schließen und in der Öffentlichkeit den Mund halten. Aber der Sohn des landesweit bekannten „Remstal-Rebellen“ Helmut Palmer ist anders gestrickt. Als Stadtoberhaupt will er Probleme lösen, nicht wegschwätzen; wo das mit Zumutungen für die Bürger verbunden ist, will er überzeugen und nicht moralisch überfahren; und wo er die Grenzen des Machbaren sieht, will er sie benennen und nicht tabuisieren.

Das hat ihm in der eigenen Partei viel Ärger eingebracht, aber auch Häme und unqualifizierte Angriffe von Weggefährten und Wohlmeinern, von lokalen wie überregionalen Medien. Ausführlich zitiert er eine Attacke der Zeit-Scharfmacherin Mely Kiyak, die ihm vorwarf, daß er einen überzeugten Grünen, der sich wegen der vielen herumlungernden jungen schwarzen Männer um seine blonden Töchter sorgte, nicht postwendend zum „Rassisten“ gestempelt habe. 

Daß er Bürgern zuhört und ihre Sorgen nicht nur paternalistisch „ernst nimmt“, sondern aufgreift, habe ihn einige Freundschaften gekostet, schreibt Palmer. Die erbitterten Debatten um einige seiner Facebook-Einträge waren der Auslöser zu seinem Buch. Für Realisten ist der Titel „Wir können nicht allen helfen“ eine Binse, für grüne Bessermenschen ist bereits das eine Provokation.

Palmers Impetus ist der des sturen Aufklärers. Eine „rein moralische Flüchtlingspolitik“ könne es nicht geben, wir könnten „nur sehr wenigen helfen“, ohne Freiheit und Wohlstand und damit die Fähigkeit zum Helfen selbst zu verlieren. Die Aufnahme von Migranten habe eben neben der moralischen auch eine ökonomische, rechtliche und praktische Dimension, die man nicht ignorieren könne: „Die Flucht nach Deutschland war ein Glück für die Flüchtlinge, nicht für Deutschland.“

Die Geglaubtheiten und Dogmen, die der „moralische Imperativ“ der Kanzlerin aufstellt und der „Chor der Leitartikler“ vervielfältigt, zerpflückt Palmer mit Argumenten. Natürlich ist eine Begrenzung des Zustroms nicht völkerrechtswidrig. Ganz Europa sehe es anders, beruft sich Palmer auf Begegnungen mit britischen oder französischen Bürgermeisterkollegen; lieber Europa zu sprengen als vom hohen moralischen Roß herunterzusteigen erscheint ihm unsinnig. Und selbstverständlich erlaubt sowohl der Kantsche Begriff des „Gastrechts“ als auch die Genfer Flüchtlingskonvention, die er ausführlich zitiert, die Zurückweisung von Straftätern, zumal die Gefahr, in Afghanistan Opfer eines Schußwaffenangriffs zu werden, statistisch geringer ist als in Chicago. Es kommt eben darauf an, wo man hinschaut.

Grüne Leser dürfte Palmer mit dem Hinweis schockieren, daß die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen von 1945 nach Lage und Einstellung eben nicht mit heutigen Asylbewerbern vergleichbar sind. Und daß ein im großen Stil zugelassener Zustrom von „jungen Männern“ mit kulturellen „Vorprägungen“, deren „Werthaltungen“ von denen der Grünen mit am weitesten entfernt sein dürften, das Land drastisch verändert.

Man müsse „sagen, was ist“, strapaziert Palmer das Spiegel-Motto; es gäbe zwar weder „Meinungsdiktatur“ noch „Zensur“, wohl aber eine „Beschimpfungskultur gegenüber AfD-Wählern“. Wo viele denken, es gebe Sprechverbote, entstehen „Diskursblockaden“. Die will er aufbrechen, weil er sie auch selbst erlebt hat; die „Nazifizierungsstrategie“ gegen AfD-Anhänger und Einwanderungskritiker führe zur Verhärtung, auch das kann er aus eigener Erfahrung nachvollziehen.

Freilich läßt auch Palmer sich zu grünem Wunschdenken hinreißen, erklärt die Aufnahme und Integration Hunderttausender für technokratisch machbar und hält es für einen Fortschritt, daß anders als noch vor 25 Jahren kaum jemand die zweistelligen Milliardenkosten dafür in Frage stelle. Er ärgert sich über das „Anspruchsdenken“ vieler „Flüchtlinge“, fragt sich aber nicht, ob sie tatsächlich welche sind. Er stellt deren Aufnahme auch nicht grundsätzlich in Frage.

„So wie es jetzt läuft, schaffen wir das“ – Palmer setzt das vorsorglich in Anführungszeichen. Der Konflikt zwischen Gesinnungsethik, die einer reinen Moral ohne Rücksicht auf die Folgen huldigen will, und staatspolitischer Verantwortungsethik sei bei den Grünen bis heute nicht aufgelöst, resümiert er. Filterblasen und Beschimpfungsreflexe gebe es sowohl bei Willkommens-Moralisten wie bei den von ihnen Ausgegrenzten. Palmer will der drohenden Spaltung begegnen, indem er „Respekt“ für die Haltung des jeweils anderen einfordert, auch wenn man sie selbst nicht teilen könne. Optimistisch, gewiß; aber immerhin lebt er es selbst vor.

Boris Palmer: Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit. Siedler Verlag, München 2017, gebunden, 256 Seiten, 18 Euro