© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/17 / 13. Oktober 2017

Wie das Gesetz es befiehlt
Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richter-bundes, rechnet mit einer politischen Moral ab, die vorurteilsfreie Recht-sprechung behindere
Günter Bertram

Was hat Sie zum „Wutrichter“ gemacht? So die Standardfrage, die dem Autor schon bei Erscheinen seines Buches und dann immer wieder gestellt wurde. Sie lag deshalb um so näher, als Jens Gnisa, Jahrgang 1963, seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes ist, des größten europäischen Berufsverbandes von Richtern und Staatsanwälten: Spricht er nun als Verbandsvertreter, nur für sich selbst oder in beiden Rollen zugleich? Manches Wort, das schon bei kursorischer Lektüre seiner Schrift ins Auge springt, läßt vehementen Protest – sogar eine politische Fundamentalkritik – vermuten, die den Mainstream verläßt und die Politische Korrektheit souverän zur Seite schiebt: Eine eher „rechte“ als „linke“ Abrechnung mit Politik und Parteien, was vom Dank des Autors an den Herder-Verlag  noch unterstrichen wird: Der habe „ den Mut“ aufgebracht, sein „kritisches Buch ins Verlagsprogramm zu hieven“. Zur Verbreitung „linker“ Kritik aber bedarf es bekanntlich keines Mutes.

Was also sind die Themen und Thesen, denen der genannte Eindruck zu verdanken ist? „Im Namen des Volkes: Wer ist das?“ fragt der Autor und setzt hinzu: „Das Schlimmste ist, daß sich selbst Repräsentanten des Volkes nicht an das Recht halten.“ Beispiele: EZB-Finanzierung von Staatsschulden,  Rücknahme der AKW-Laufzeitverlängerung ohne Parlamentsbeschluß und anderes mehr. Wenn die Kanzlerin verkünde, das (deutsche) Volk sei jeder, der in diesem Lande lebe, und wenn die grenzenlose Willkommenskultur sich darauf berufe, so sei dergleichen eine grobe Mißachtung von Recht und Verfassung; denn nirgendwo anders als dort (Art. 116 Grundgesetz) stehe, wer zum deutschen Volk gehöre. 

Doch „wer vor den Risiken der Flüchtlingsströme warnte, bekam die Antwort, daß solche Skepsis gegen die Willkommenskultur verstoße. Das ist alles Unfug. (…) Angela Merkel hat aus humanitären Motiven den Flüchtlingen Tür und Tor geöffnet und dabei (...) auch Kriminelle und sozial Entwurzelte ins Land gelassen. Sie hat darüber hinaus einer noch viel größeren Bedrohung den Weg geebnet: der phasenweisen Kapitulation des Staates.“ Dessen Hilflosigkeit habe sich in der katastrophalen Kölner Neujahrsnacht 2016 besonders kraß gezeigt. Und: Der Staat, unter moralisches Dauerfeuer gesetzt, verzichte immer wieder darauf, rechtliche Entscheidungen durchzusetzen, zumal Abschiebungen, selbst wenn deren Rechtmäßigkeit immer und immer wieder geprüft und bestätigt worden sei. Dazu schildert der Verfasser eigene eindrucksvolle Erlebnisse. Ein paar skeptische Sätze über das Kirchenasyl beschließt er mit dem Satz: „Somit verstehe ich das Kirchenasyl als eine besondere Art der Rechtsverweigerung.“ 

Großstadtghettos, in denen Ausländer-Clans (etwa libanesische Großfamilien) die Macht übernommen hätten, seien für Deutsche dort zur „No-go-Area“ geworden – selbst für die Polizei betretbar nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Dazu Beobachtungen des Verfassers in Duisburg-Marxloh – aus dem sicheren Polizeifahrzeug heraus. Hier nur soviel aus einer Fülle von Gründen und Beobachtungen, die Gnisa  offenbar zu seinem „Alarm“ bewogen haben – auf fast 300 Seiten.

Der Ausklang des Buchs: „Vertrauen in den Rechtsstaat !… Ergreifen wir jetzt die Chance seiner Reform!“, klingt sympathisch, doch nicht wie ein Alarmruf. Und wenn der Autor in einem Interview vom 16. August 2017, nach seinen wichtigsten Rettungsschritten gefragt, erstens mehr Personal, zweitens Selbstverwaltung der Justiz und drittens „Entrümpelung“ statt ständig neuer Gesetze nennt, dann sind das vernünftige, jedenfalls diskutable, doch wohlbekannte Forderungen – nicht nur des Richterbunds: Forderungen, die neben zahlreichen anderen auf vielen Seiten entfaltet werden. 

Nur ein kleiner Alarm klingt auch dort an, wenn der Autor die Selbstverwaltung der Justiz als Bollwerk gegen verfassungswidrige Umwälzungen empfiehlt und dazu das Szenario entwirft, die AfD komme in einem Bundesland zur Macht und trachte alsbald danach, auch alle wichtigen Justiz- und Richterstellen mit ihren eigenen Leuten zu besetzen.  Dem würde dann nur noch ein selbständiger, von der Regierung unabhängiger Justizverwaltungsrat die Stirn bieten können. Natürlich nennt der Autor auch die bekannten ernsthaften Gründe für eine Selbstverwaltung der Justiz; und er schreibt auch sonst viel Lesens- und Beherzigenswertes.

Was aber finden wir über die Gerechtigkeit, den Zentralbegriff seines Buches? Sie liege heute bei einer jungen Richtergeneration, die alle Eierschalen linker oder rechter Ideologie längst abgestreift habe, in besten Händen. Unterstellen wir diesen munteren Optimismus einmal als berechtigt, so bleibt doch die Frage, worin diese so gut verwaltete Gerechtigkeit nun substantiell besteht. Die Richter, so liest man, seien „wohltuend pragmatisch“, wendeten „ohne große Aufregung schlicht das Gesetz an. (…) Gerechtigkeit ist für sie kein großes Thema – weil sie damit im reinen sind. Sie haben andere Sorgen: die Personalausstattung oder die Handhabbarkeit der Prozeßordnung.“ Gerechtigkeit sei nichts als „ein moralisches Konstrukt“ und liege auf einer „juristisch nicht zu akzeptierenden Argumentationsebene“. 

In diesem Sinne findet sich dann auch noch verschiedenes: Lob für juristisch saubere Rationalität, „alles andere sieht der Jurist als Ideologie oder schlichtes Gewäsch an“. Vermutlich ist der Autor im Laufe seines Amts so oft mit anmaßender Moral überschüttet und traktiert worden (Beispiele nennt er zuhauf), daß er nun das Kind mit dem Bade ausschüttet, Moral und Ethik aus dem Gerichtssaal ganz verbannt und dort nur noch die logische Subsumtion gelten läßt. 

Begreiflich, aber kaum überzeugend; dem großen Thema der Gerechtigkeit hätte eine gewisse Vertiefung jedenfalls gutgetan. Trotzdem: Ein nützliches, instruktives Buch, das dem Volk die Nöte einer von der Politik vernachlässigten Justiz eindrucksvoll vor Augen führt.






Günter Bertram war Vorsitzender Richter am Landgericht Hamburg.

Jens Gnisa: Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm. Herder Verlag, Freiburg/Breisgau 2017, gebunden, 288 Seiten, 22 Euro