© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

„Hey, entspannt euch mal!“
Was machen diese Deutschen denn da schon wieder? Fragte sich der amerikanisch-jüdische Autor Tuvia Tenenbom und reiste durchs Land, um unsere Flüchtlingspolitik zu inspizieren. In seinem neuen Buch liest er uns nun gewaltig die Leviten
Moritz Schwarz

Herr Tenenbom, sind wir Deutschen nicht ganz wunderbare Menschen?

Tuvia Tenenbom: Eben das wollte ich für mein Buch herausfinden. Warum habt ihr eure Tore für all diese Einwanderer geöffnet – viel weiter als alle anderen? Dafür habe ich Hunderte von euch befragt. 

Und? 

Tenenbom: Adolf Hitler. 

Sie meinen ... 

Tenenbom: ... die Geschichte, ja. Praktisch alle haben damit geantwortet. 

Warum? 

Tenenbom: Weil ihr Deutsche zeigen wollt, daß ihr euch geändert habt.

Und? 

Tenenbom: Nun, ich weiß nicht ... 

Weshalb?

Tenenbom: Einige von euch haben mir gesagt: „Wir sind besser als die anderen Europäer.“ „Wieso?“ „Weil die anderen nicht so viele aufnehmen.“ Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts dagegen, sich selbst gut zu finden. Aber am Ende sind wir doch alle Menschen. Die gleichen Menschen, wenn auch in unterschiedlichen Kulturen. Was ich nicht kritisiere – mit dem habe ich kein Problem. 

Aber? 

Tenenbom: Na ja, wissen Sie, was Rassismus ist? Nein, antworten Sie nicht, ich sage es Ihnen! Nicht, wenn Sie darauf hinweisen, daß die Kulturen unterschiedlich sind – das hat mit Rassismus nichts zu tun. Rassismus ist, wenn Sie sagen: „Meine Rasse ist besser als deine“, ach was, „als alle anderen!“ Ich spreche also mit diesen deutschen Studenten und sie sagen, sie lehnten Rassismus ab. Gleichzeitig aber meinen sie, die Deutschen seien besser als die anderen. „Hey!“, hätte ich am liebsten gesagt, „habt ihr in eurem Seminar schon gelernt, was ein Oxymoron ist?“ 

Laut Duden ein Widerspruch in sich.  

Tenenbom: Eben. „Wir sind keine Rassisten – aber unsere ‘Rasse’ ist besser“. Ist das euer ernst? Wissen Sie, ich finde euch Deutsche ja prima. Aber ihr seid weder besser noch schlechter als andere. Hört endlich auf das zu denken! Dann wärt ihr auch nicht mehr so kindisch und müßtet euch nicht verbiegen, nur um der Welt zu beweisen, daß ihr euch auch geändert habt. Und dann wäre bei euch auch nicht mehr ständig von „Nazis“ die Rede.

Inwiefern das? 

Tenenbom: Das höre ich bei euch dauernd: Nazi, Nazi, Nazi! Deutsche, die ihre Kultur bewahren wollen, sind bei euch gleich Nazis. Mit Nazismus hat das nichts zu tun. Es ist einfach der Streit zwischen jenen, die ihr Land bewahren wollen, wie es ist und jenen, die es überwinden und etwas neues schaffen wollen. 

Und wo stehen Sie da?

Tenenbom: Ich bin Ausländer, mir ist das egal.  

Sie müssen doch eine Meinung haben.

Tenenbom: Nein, macht das unter euch aus. Ich beobachte das nur.

Und was beobachten Sie?

Tenenbom: Daß ihr Deutschen euch von eurem Trauma nicht erholt habt. Ihr ringt miteinander. Dabei ringt ihr in Wirklichkeit mit der Last der Geschichte auf euren Schultern. Ihr merkt das nicht, aber für mich ist es deutlich zu sehen. Das gilt für normale Deutsche ebenso, wie für die Jungs von der Antifa oder die Rechten. Mensch, ihr seid doch ein Volk! Aber ihr habt euch unerbittlich in den Haaren. 

Und einen Rat haben Sie nicht?

Tenenbom: Na, hört auf mit PR-Kampagnen wie der „Refugees welcome“-Nummer. Die Wahrheit ist doch, ihr behandelt die Flüchtlinge beschissen. 

Meinen Sie nicht, daß Einwanderer in Deutschland überdurchschnittlich gut versorgt werden? Warum sonst wollen die meisten am liebsten zu uns?

Tenenbom: Erzählen Sie mir nichts. Ich war dort. In euren Asylunterkünften. Allein unter Flüchtlingen – so wie mein Buch heißt. Ich habe hinter die Fassade geschaut. Glauben Sie nicht ihre eigene PR-Propaganda – ihr behandelt die Flüchtlinge wie Hunde. 

Das ist doch völlig übertrieben. 

Tenenbom: Lesen Sie mein Buch! Ihr  öffnet die Tore und stellt euch dar wie Vorbilder. Dann aber habt ihr die Tore geschlossen – mit eurem Erdogan-Deal. Entscheidet euch! Macht auf und zahlt den Preis. Und ich sage, er wird nicht unbeachtlich sein. Denn dann müßt ihr alle aufnehmen, die da kommen – und es kommen immer mehr. Oder laßt es, macht dann aber nicht diese Schau.

Also geht es gar nicht um die Flüchtlinge? 

Tenenbom: Natürlich nicht. Es geht euch darum, euch gut zu fühlen: Teddys werfen, wohlfühlen.

Das ist jetzt schon zwei Jahre her. 

Tenenbom: Na und? Das was dahintersteht, eure Idee einer Willkommenskultur ist immer noch da. Und zwar, weil ihr das braucht. Briten oder Franzosen dagegen brauchen das nicht, geschweige denn Polen oder Ungarn.

Betrachten Sie die Willkommenskultur also als etwas Schlechtes? 

Tenenbom: Ich weiß nicht, aber es ist wie die Aufforderung: „Liebt uns!“ Sagen Sie mir, was fühlen Sie für eine Person, die Sie anbettelt, sie doch bitte liebzuhaben? – Bedauern. Ist es nicht so? 

Vermutlich ... 

Tenenbom: Na also. Es ist wie bei Donald Trump.

Wie kommen Sie jetzt auf den?

Tenenbom: Der geht zwar anders damit um, hat aber das gleiche Problem wie ihr: Hier bin ich! Schaut zu mir!

Wenn Sie in Deutschland ernstlich behaupten, „Refugees welcome“ bewege sich auf dem Niveau von Donald Trump, werden Sie für verrückt erklärt. 

Tenenbom: Warum? Dahinter steckt der gleiche Narzißmus. Glauben Sie mir. Der Mann ist ebenfalls kindisch und will geliebt werden. Und er hat ebenfalls nicht begriffen, daß die Welt sich in Wirklichkeit nicht um ihn dreht, auch wenn er Präsident ist. Ebenso dreht sie sich nicht um Deutschland. In anderen Ländern starrt man nicht ständig auf euch und verfolgt, ob ihr euch geändert habt oder nicht. Das interessiert die allermeisten einen feuchten Kehricht. Die Welt liebt eure Autos, Maschinen und ich vor allem eure Schnitzel. Aber ihr selbst seid nicht wichtiger als jedes andere Volk. Die Welt wird nicht besser, weil ihr euch angeblich geändert habt. Hey Deutsche, entspannt euch mal!

Sie argumentieren wie Pegida und AfD, die Normalisierung statt Moralismus fordern. 

Tenenbom: Interessiert mich nicht.  Wenn die das auch so sehen wie ich, dann haben sie in diesem Punkt eben recht. Aber deshalb bin ich nicht für Pegida oder AfD. Auch wenn ich mich frage, was an denen so schlimm ist? In den USA denkt jeder zweite wie die. Ist deshalb jeder zweite Amerikaner ein Nazi? Denken Sie mal an Obama. In seiner Amtszeit haben die USA ganze 15.000 Syrer aufgenommen. Er hätte wie Merkel Millionen reinlassen können, aber es waren 15.000. AfD, Obama, Pegida – so gesehen ist das alles das gleiche.     

Warum sehen wir Deutschen das nicht?

Tenenbom: Weil es euch nicht interessiert. Weil euch die Welt in Wahrheit nicht kümmert. Ihr seid in euch selbst vernarrt. Das ist dieser Narzißmus. Links und Rechts ringen hier miteinander, als entscheide sich der Kampf Gut gegen Böse, um Faschismus oder Freiheit, für die ganze Welt allein in Deutschland.

Links gegen Rechts, das ist doch bei Ihnen in Israel nicht anders.

Tenenbom: In Israel ist die Lage kompliziert. Dort werden viele der linken Organisationen aus dem Ausland bezahlt, etwa aus der EU, vor allem übrigens aus Deutschland. Die radikale Linke bei uns ist nicht wie bei euch hausgemacht.

Klingt nach Verschwörungstheorie. 

Tenenbom: Quatsch, glauben Sie mir. Deutschland und Israel lassen sich da nicht vergleichen. Aber das seht ihr nicht. Und warum? Weil ihr besessen seid von Israel!

Wieso denn nun das?

Tenenbom: Ist es etwa nicht so? Dann erklären Sie mir mal, warum die Europäer ständig auf Israel herumhacken.

Wegen des zum Teil völkerrechtswidrigen Verhaltens in den besetzten Gebieten. 

Tenenbom: Nein, das ist nicht der Grund. Der Grund ist, daß die Europäer Antisemiten sind.

Damit nimmt Sie hier keiner ernst. 

Tenenbom: Ihr seid sogar schlimmere Antisemiten als die Araber. Denn die Araber, die haben einen Grund. Ihr Europäer aber nicht. Und dennoch sind die Linke und die Mitte in Europa wie besessen davon, Israel zu kritisieren und negativ darzustellen. Israels Mauer vergleicht ihr mit der Berliner Mauer, den Gaza-Streifen mit dem Warschauer Ghetto, die Palästinenser mit den Schwarzen im Südafrika der Apartheid. Apartheid? Manche Palästinenser sind israelische Staatsbürger, sind Uni-Professoren, sitzen als Abgeordnete in der Knesset – und ihr sprecht von Apartheid? Und wenn euch die Menschenrechte so am Herzen liegen, was ist dann mit eurem Verbündeten Saudi-Arabien, eurem Flüchtlings-Deal-Partner Türkei, eurem Handelspartner China? Sagen Sie mir ganz ehrlich: Regen sich die Deutschen wirklich genauso über die viel schlimmeren Zustände in diesen Ländern auf wie über Israel.

Wohl eher nicht. 

Tenenbom: Sehen Sie. 

Sie sprachen von der Linken und der Mitte. Was ist mit der Rechten? 

Tenenbom: Das war einmal. Die interessiert der Antisemitismus heute nicht mehr. Denen ist Israel egal.

Sind Sie daher so entspannt ihr gegenüber? 

Tenenbom: Quatsch, in Magdeburg etwa wurde ich von Rechten geschlagen. 

Aber Sie haben über Frauke Petry gesagt, sie sei eine nette Frau. 

Tenenbom: Das ist sie auch. Ich weiß, jetzt denken Sie, ich bin naiv, ich wäre ihr bei unserem Treffen auf den Leim gegangen. Keine Sorge, ich weiß sehr wohl, was es mit der AfD auf sich hat. Ich mache mir da keine Illusionen. Und dennoch sage ich, man sollte sie fair behandeln. Ich habe mich ebenso mit linken Politikern getroffen, die waren teilweise sogar noch netter als Frauke Petry. Und das sage ich, obwohl aus der Sicht eines Juden die SPD oder die Linke wirklich viel, viel schlimmere Parteien sind als die AfD. Aber ich habe ja auch viele Freunde unter Arabern. Ehrlich gesagt, ich liebe die Araber, und wenn ich wiedergeboren werden würde, dann gerne als Moslem. Und das alles, obwohl sie Israel vernichten wollen. Ich meine einfach, man sollte das eine vom anderen trennen, niemanden hassen und zu allen fair sein. Aber da habt ihr Deutschen noch viel zu lernen, sei es gegenüber der AfD, sei es gegenüber den Flüchtlingen.

Haben Sie das „Ihr behandelt sie wie Hunde“ vorhin wirklich ernst gemeint?

Tenenbom: Sonst hätte ich es nicht gesagt. Es mag Flüchtlingen in anderen Ländern schlechter gehen. Aber ihr seid eines der reichsten Völker der Erde. Angesichts dessen ist die Art, wie ihr sie in euren Lagern haltet, wirklich inakzeptabel: Zusammengepfercht wie Vieh, ohne Privatsphäre, hygienische Mindeststandards, ausgesetzt der Gewalt untereinander, verdammt zum Nichtstun und gefangen in unendlicher Langeweile.

Ihr Lösungsvorschlag? 

Tenenbom: Erstens solltet ihr Deutschen mal begreifen, was Demokratie ist. 

Was haben Sie da wieder auszusetzen? 

Tenenbom: Ihr glaubt, demokratisch sei, die Tore aufzumachen. Falsch. Demokratisch ist es, wenn gilt: Jede Stimme zählt gleich. Egal ob für oder gegen den Zustrom. Und das hat vor allem die deutsche Presse nicht verstanden, die nicht mal den Unterschied zwischen Journalismus und Aktivismus kennt. 

Sie sind polemisch.

Tenenbom: Meinen Sie? Ich habe, wie Sie wissen, für die Zeit geschrieben. Aber dann haben sie angefangen, mich zu zensieren, mir zu sagen, was ich zu schreiben habe. Nein danke. In Deutschland informiert die Presse nicht, sie bevormundet.

Und zweitens?   

Tenenbom: Tönt nicht herum: Wir schaffen das! Nehmt nur auf, wen ihr menschenwürdig versorgen könnt. Möglichst viele hereinzulassen, ohne sich um sie kümmern zu können, nur um vor der Welt als besonders moralisch dazustehen, das ist – so leid es mir tut – genau das Gegenteil davon. 






Tuvia Tenenbom, „Der Anarchist, der Deutschland schockiert“ (Stern) und dessen Bestseller „Allein unter Deutschen. Eine Entdeckungsreise“ 2012 prompt auf der Spiegel-Bestsellerliste landete, ist eigentlich ein renommierter Dramatiker und Essayist. Tenenbom ist Autor eines knappen Dutzends Theaterstücke, die auch in Deutschland aufgeführt werden. Außerdem schreibt und schrieb er für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel. Geboren 1957 in Tel Aviv, zog Tenenbom 1981 nach New York, studierte Theaterwissenschaften, Informatik, Islamkunde und Rabbinische Studien. 1994 gründete er das „Jewish Theater of New York“. Auch sein neues „gewohnt pfiffiges“ (Cicero) Buch „Allein unter Flüchtlingen“ findet bei der Kritik viel Lob. 

Foto: Dramatiker Tenenbom: „Ihr Deutschen habt euch von eurem Trauma immer noch nicht erholt (...) Ihr habt euch unerbittlich in den Haaren. Mensch, dabei seid ihr doch ein Volk!“

 

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