© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Ideologisch tief zerrissen
Spanien/Katalonien: Während Barcelona auf Zeit spielt, macht Madrid mobil
Michael Ludwig

In den Büros der spanischen Regierung in Madrid sind die Planungen für den Notfall so gut wie abgeschlossen – sollte sich Barcelona erneut weigern, seine Unabhängigkeitserklärung zu bestätigen oder zu dementieren, werden sie in die Tat umgesetzt. Konkret heißt das: die Zentralregierung übernimmt die Verwaltung der rebellischen Provinz im Nordosten des Landes. Als erste, so meldet die Tageszeitung El País, werden die katalanischen Schlüsselministerien für Innere Sicherheit und für Finanzen entmachtet und Madrid direkt unterstellt. Dort ist man sich darüber im klaren, daß ein solcher drastischer Schritt einem politischen Hochseilakt gleicht, der ganz Katalonien in offenen Aufruhr versetzen kann.

Madrid erhöht Druck auf Aktivisten  

Der konservativen Minderheitsregierung unter Mariano Rajoy, aber auch den beiden wichtigsten Oppositionsparteien – der sozialistischen PSOE und den bürgerlichen Ciudadanos –, die in dieser Frage Rajoy unterstützen, geht die Geduld nun endgültig aus. Zu lange schon währt in ihren Augen die Hinhaltetaktik Kataloniens. Ein erstes Ultimatum ließ die Regierung in Barcelona verstreichen, ohne auf die drängende Frage zu antworten, ob die von ihr kürzlich unterschriebene Unabhängigkeitserklärung Gültigkeit besitzt oder nicht. Jetzt hat Madrid abermals eine verbindliche Antwort eingefordert. Vizepräsidentin Soraya Sáenz de Santamaria wirkte in einer von der Zentralregierung einberufenen Pressekonferenz sichtlich genervt, als sie forderte, daß es doch nicht so schwer sein könne, auf diese einfache Frage mit einem klaren Ja oder Nein zu antworten.

Madrids Vorstellungen gehen jedoch weiter. Möglicherweise, so heißt es, könnte es sich als notwendig erweisen, daß der amtierende katalanische Regierungschef Carles Puigdemont und sein gesamtes Kabinett ausgewechselt werden müßten. Ein von Madrid entsandter Statthalter könnte die politischen Geschicke der bevölkerungsreichen und wirtschaftlich starken Region vorübergehend leiten. Ihm zur Seite stünden entweder ein Stab von Technokraten oder unbescholtene Bürger aus ganz Spanien. Grundlage für diese Entscheidungen ist der Artikel 155 der Verfassung, der derartige einschneidende Maßnahmen zuläßt, sollte eine Provinz gegen die Verfassung verstoßen. Das habe Barcelona mit seinem illegalen Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit, so die Sichtweise Madrids, getan.

Daß das katalanische Innenministerium als eines der ersten seine Entscheidungsbefugnisse verlieren soll, kommt nicht von ungefähr. Gegenwärtig muß sich der Chef der katalanischen Regionalpolizei Mossos, Josep Lluís Trapero, wegen „Rebellion“ vor dem obersten spanischen Gerichtshof verantworten. Ihm wird vorgeworfen, gegen die richterlichen Anweisungen verstoßen zu haben, während des Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober Urnen und sonstige Wahlunterlagen zu beschlagnahmen. Trapero habe die Mossos vielmehr angewiesen, nicht einzuschreiten. 

Auch die Vorsitzenden der Katalanischen Nationalversammlung (ANC), Jordi Sánchez, und des Òmnium Cultural, Jordi Cuixart, müssen vor dem obersten Gerichtshof Rede und Antwort stehen. Den Chefs der beiden einflußreichen katalanischen Organisationen wird vorgeworfen, eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung des illegalen Referendums gespielt zu haben. Sie wurden in Untersuchungshaft eingeliefert. Puigdemont nannte die beiden „politische Gefangene“.

Die 17.000 Mossos, die einen nicht zu unterschätzenden Machtfaktor darstellen, werden unterdessen immer mehr in die innenpolitischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Nach Angaben der spanischen Presse geht durch die Truppe ein tiefer ideologischer Riß. Aufsehen erregte die Meldung, daß 50 Mossos offiziell den Antrag gestellt haben, in die Policia Nacional und Guardia Civil aufgenommen zu werden, 150 weitere scheinen diesen Schritt ebenfalls vollziehen zu wollen, obwohl sie dort wesentlich weniger verdienen als bei den Mossos.

Barcelonas Hoffen auf Brüssel zerstoben

In einem Brief an den spanischen Innenminister Juan Ignacio Zoido schreibt ein Mosso, daß die katalanische Polizei im Sinne der Unabhängigkeitsbewegung indoktriniert werde; wer sich ihr nicht anschließe, werde gemobbt. Weiter heißt es, es gebe „schwarze Listen“, auf denen die „espanolistas“ aufgeführt seien. In manchen Kommissariaten komme es zu heftigen verbalen und manchmal auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten. Kurzum, es herrsche ein Klima der Entfremdung, der Mißgunst und der Angst.

Eine der verwundbarsten Stellen der katalanischen Regierung ist die Wirtschaft, die auf das politische Chaos mit einer regelrechten Fluchtwelle reagiert. Nachdem die beiden größten katalanischen Banken, La Caixa und Sabadell, ihre Geschäftssitze nach Valencia beziehungsweise Alicante verlegt haben, folgten zwischenzeitlich 691 weitere Unternehmen unterschiedlicher Größe. Sie suchen außerhalb Kataloniens geordnete juristische Verhältnisse, die Vorteile, die der europäische Binnenmarkt bietet, und den Schutz vor einer möglichen Doppelbesteuerung, sollte die Provinz tatsächlich die Unabhängigkeit unmißverständlich ausrufen.

In der Hauptstadt blickt man mit besonderer Sorge auf den wirtschaftlichen Aderlaß, der die ohnehin schon komplizierte Situation zusätzlich erschwert. In ihrer Pressekonferenz äußerte Vizepräsidentin Santamaria die Befürchtung, daß Katalonien in eine Rezession schlittern könnte. Bereits jetzt sei eine Zurückhaltung ausländischer Investoren festzustellen, auch die Zahl der Touristen, die Katalonien besuchen, sei eingebrochen. Wirtschaftsminister Luis de Guindos erklärte am Rande einer Konferenz des Internationalen Währungsfonds in Washington, daß Spanien das für 2018 prognostizierte Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent wohl nicht erreichen werde. Zudem werde die Staatsverschuldung  über den angestrebten 2,2 Prozent des Bruttosozialprodukts liegen.

Die Hoffnungen Barcelonas, mit Hilfe der Europäischen Union die Unabhängigkeit durchzusetzen und gleichzeitig Mitglied des politischen und wirtschaftlichen Blocks zu bleiben, haben sich zwischenzeitlich endgültig in Luft aufgelöst. Kommissionschef Jean-Claude Juncker erklärte das Thema mit den Worten „Ich mag keine EU mit 98 Staaten“ für erledigt. Inhaltlich nimmt Brüssel Bezug auf die sogenannte Prodi-Doktrin von 2004. Damals hatte der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi erklärt, daß Gebiete, die sich von EU-Mitgliedsländern abspalten, am Tag ihrer Unabhängigkeit als Drittstaaten behandelt werden würden, auf deren Gebiet die europäischen Verträge „keine Anwendung mehr finden“.