© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Riskante Machtspiele
USA/Nordkorea: Der Krieg der Worte kann schnell eskalieren
Thomas Bargatzky

Die Londoner Erklärung der Nato vom 5./6. Juli 1990 verkündet, daß das westliche Militärbündnis niemals und unter keinen Umständen als erstes Gewalt anwenden werde. Atomwaffen gelten ferner als das wirklich letzte Mittel der Kriegführung. Im Jahr 2017 ist das Makulatur, denn die Androhung eines atomaren Angriffskrieges gegen Nordkorea, einen kleinen und schwachen gescheiterten kommunistischen Staat, der kein Öl hat, dafür aber eine hungernde Bevölkerung, stößt auf keinen nennenswerten öffentlichen Protest. Die „Gefährdung“ der USA und ihrer Verbündeten durch Nordkoreas „irren Diktator“ Kim Jong-un dient als Rechtfertigung einer rhetorischen Drohkulisse, die alles in den Schatten stellt, was westliche Politiker bislang bei politischen Krisen kundgaben.

Nordkorea zog sich wegen seiner Atom- und Raketentests den Zorn der neuen US-Regierung zu. Präsident Donald Trump drohte, Nordkorea „vollständig auszulöschen“ und mit „Feuer und Zorn in einem Ausmaß zu überziehen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat“. Die Rhetorik des nordkoreanischen Machthabers als Reaktion auf die amerikanischen Ausfälle ist freilich nicht minder stark. Nordkoreas Führung ist davon überzeugt, daß das Land sich letztlich auch nicht auf seine nördlichen Nachbarn China und Rußland, sondern nur auf sich selber verlassen könne. Daher ist sie, verschiedenen UN-Resolutionen zum Trotz, nicht dazu bereit, auf den Aufbau einer eigenen Atomstreitmacht zur Abschreckung seiner Gegner zu verzichten. 

Avisierter Friedensvertrag kam nie zustande 

Die USA und Nordkorea, das durch die amerikanischen Bombenangriffe während des Korea-Krieges cirka 30 Prozent seiner Einwohner verlor, schlossen 1953 ein Waffenstillstandsabkommen. Nordkoreanischem Drängen auf den Abschluß eines Friedensvertrages zur formellen Beendigung des Krieges kamen die USA bis heute nicht nach. Stattdessen beließen sie 30.000 Soldaten in Südkorea und halten gemeinsam mit Südkorea jährliche Militärmanöver ab, die vom Norden als Provokation und Bedrohung empfunden werden. Folglich versuchte Nordkorea während der 1980er Jahre, eine Mittelstreckenwaffe zur Abwehr der massiven militärischen Mittel aufzubauen, die die USA auf ihren Basen in Japan und durch die 7. Flotte gegen Nordkorea in Stellung hält. Grundlage dafür waren sowjetische mit Flüssigtreibstoff betriebene Scud-Kurzstreckenraketen.

Es ist nicht klar, inwieweit dieses Programm aus technologischer Sicht glaubwürdig war, oder ob es primär der psychologischen Abschreckung diente. Jedenfalls führten nordkoreanische Raketentests im Jahre 1994 zur steigenden Kriegsangst auf der Koreanischen Halbinsel. Die Spannungen wurden kurzzeitig durch Verhandlungen unter Vermittlung des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter abgebaut. Sie führten zu einer Rahmenvereinbarung, die beide Seiten am 21. Oktober 1994 unterzeichneten.

Die USA erklärten sich dazu bereit, bis 2003 zwei 1.000-Megawatt-Leichtwasser-Reaktoren in Nordkorea zu errichten. Finanziert werden sollten sie durch Südkorea zu 70 Prozent, Japan zu 20 Prozent, und verschiedene europäische Länder sollten für die restlichen 10 Prozent aufkommen. Diese neuen Atomkraftwerke sollten die Reaktoren sowjetischer Bauart ersetzen, bei deren Betrieb Plutonium anfällt, das für den Bau von Atombomben verwendet werden kann. Die USA würden ferner Erdöl liefern, um den Energieausfall als Folge der Schließung von Nordkoreas alten Atomkraftwerken zu überbrücken. 

Die USA sagten ferner zu, auf der Koreanischen Halbinsel Kernwaffen weder einzusetzen, noch mit ihrem Einsatz zu drohen. Außerdem sollten Handelsbeziehungen eröffnet und eine Form diplomatischer Beziehungen eingerichtet werden. Nordkorea wiederum verpflichtete sich, die sowjetischen Meiler nicht weiter zu benutzen und sie abzubauen, die Brennstäbe außer Landes zu bringen, den Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen einzuhalten und der Internationalen Atomenergiebehörde Inspektionen zu erlauben.

Japan und die USA zögerten jedoch, diese Vereinbarungen einzuhalten. Japan stellte zunächst 5,8 Millionen US-Dollar zur Verfügung, stellte dann aber seine Zahlungen ein. Anstatt Erdöl zu liefern, Handelsbeziehungen und diplomatische Beziehungen zu eröffnen, wurden von den USA gerade genug Lebensmittel geliefert, um Nordkorea vor dem Verhungern zu bewahren. Die Weltwirtschaftskrise von 1997 brachte Südkorea an den Rand des Zusammenbruchs, so daß das Land seine Finanzierung der neuen nordkoreanischen Reaktoren ebenfalls einstellte. Die USA unternahmen keinen Versuch, die ausgefallenen Zahlungen zu ersetzen oder andere Länder zum Einspringen zu bewegen. 

Nordkorea war verständlicherweise enttäuscht wegen des Ausbleibens der Dinge, die die USA in den Rahmenvereinbarungen von 1994 zugesagt hatten. Zu allem Überfluß verkündete US-Verteidigungsminister William Cohen im April 1997 in Seoul, daß die USA ihre Truppen selbst im Falle der Wiedervereinigung beider koreanischer Staaten weiterhin auf der Halbinsel stationieren würden, was im Norden die stets latenten Zweifel an den friedlichen Absichten der USA am Leben hielt. Nordkorea baute daher seine Mittelstreckenabwehr weiterhin aus, behielt die Kontrolle über seine Brennstäbe und begann möglicherweise schon mit der Entwicklung von Langstreckenraketen. Seither nahmen die Spannungen beständig zu.

Keinerlei Rechtfertigung für eine Aggression  

Nach Ansicht des amerikanischen Sicherheits-und Ostasienexperten Chalmers Johnson nützt Nordkorea diversen Washingtoner Interessen: Politikern, die sich gegenüber ihren Rivalen profilieren möchten, kommt das Land als Watschenmann gerade recht, denn sie können ihre politischen Gegner mit dem Verweis auf Nordkorea beschuldigen, zu weich gegenüber „Schurkenstaaten“ zu sein. Für die Waffenindustrie, die ihre Waffen überall in Asien verkaufen möchte, ist Nordkorea ein Geschenk. Für das Militär, das nach dem Kalten Krieg einen Feind braucht, um seinen immensen Etat zu rechtfertigen, ist Nordkorea weniger riskant als China. Johnson warnt seine Regierung jedoch vor militärischen Interventionsgelüsten: „Abgehobene Pentagon-Strategen, die sich Nordkorea als eine Art potentiellen ostasiatischen Irak vorstellen, haben keine Ahnung von Korea als einem realen Ort in Raum und Zeit. Es ist keine unbewohnte Wüste, der Einsatz von Waffengewalt würde daher für alle Seiten katastrophale Folgen haben. Es gibt keine plausible ‚militärische Option‘ für Korea“. So schrieb Johnson im Jahre 2000. Er hatte nicht mit der Verrohung der politischen Rhetorik in unseren Tagen gerechnet.

Wie immer man das Handeln Nordkoreas beurteilen mag, in der Charta der Vereinten Nationen (Kapitel I, Artikel 2, Absatz 4) ist jedoch nicht nur das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Mitgliedsstaaten niedergelegt. Diese Charta sowie die drei maßgeblichen UN-Resolutionen 2.131 (1965), 2.625 (1970) und 3.314 (1974) stehen auch für den allgemeinen Grundsatz, daß die militärische Intervention eines Staates auf dem Territorium eines anderen Staates verboten ist. Die Resolution 3.314 kleidet diesen Grundsatz in unzweideutige Worte: „Keine Überlegung irgendwelcher Art, sei sie politischer, wirtschaftlicher, militärischer oder sonstiger Natur, kann als Rechtfertigung für eine Aggression dienen.“ 

Als „Angriffshandlung“ verbietet die Resolution 3.314 ferner ausdrücklich „die Beschießung oder Bombardierung des Hoheitsgebietes eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder den Einsatz von Waffen jeder Art durch einen Staat gegen das Hoheitsgebiet eines anderen Staates“, ferner „die Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates“.

Nato-Angriffskriege liefen Völkerrecht zuwider

Das Völkerrecht läßt nur die Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs oder ein Mandat des UN-Sicherheitsrates als Rechtfertigung einer militärischen Intervention zu. Der Sicherheitsrat kann den Einsatz militärischer Mittel jedoch nur dann erlauben, wenn die internationale Sicherheit mit anderen Mitteln nicht bewahrt werden kann und dadurch der Weltfrieden bedroht würde. Ein Mandat zur militärischen Intervention in Nordkorea wurde vom UN-Sicherheitsrat bisher nicht erteilt. 

Schon werden jedoch auf westlicher Seite Rufe nach dem präventiven Einsatz taktischer und strategischer Nuklearwaffen gegen Nordkorea laut. Taktische Atomwaffen sind für den Einsatz im Gefechtsfeld gedacht, etwa gegen Bunker und Tunnelanlagen. Angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen und der langfristigen Folgeschäden des Einsatzes solcher Waffen ist die Bezeichnung „taktisch“ ein Beispiel für verschleierndes Neusprech im Sinne George Orwells.

Strategische Nuklearwaffen sind nicht für das Gefechtsfeld gedacht, sondern gegen das Hinterland des Gegners gerichtet. Die Absicht hinter dem Einsatz solcher Waffen ist die maximale Zerstörung der Infrastruktur, wobei auch die massenhafte Vernichtung der Zivilbevölkerung des Gegners in Kauf genommen wird, etwa bei der Auslöschung ganzer Städte. Der Einsatz strategischer Atomwaffen in einem „Präventivkrieg“ wäre also Völkermord. Die Definition, die in Artikel 2 der Übereinkunft der Vereinten Nationen über die Verhinderung und Bestrafung des Genozids vorgegeben ist, läßt daran keinen Zweifel zu. 

Der Krieg gegen den Irak im Jahre 2003 war ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg einer „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA und Großbritanniens. Die ursprünglich als Verteidigungsbündnis angelegte Nato führte ferner nach dem Ende des Kalten Krieges zwei illegale Angriffskriege: im Jahre 1999 gegen Jugoslawien um den Kosovo und 2011 gegen Libyen. Diese Kriege verstießen gegen Geist und Buchstaben der Nato-Gründungsakte und gegen die Prinzipien des Völkerrechts. Von den Bürgern in den westlichen Ländern wurden sie alle ohne nennenswerte Proteste hingenommen. Auch die Forderung nach einem präventiven Atomkrieg gegen Nordkorea und die Drohung, das Land „vollständig auszulöschen“, ist ein Ausdruck der zunehmenden Rechtlosigkeit in den zwischenstaatlichen Beziehungen seit dem Ende des Kalten Krieges.

Das Völkerrecht spielt in der von US-Präsident George H.W. Bush 1990 ausgerufenen Neuen Weltordnung keine große Rolle mehr. Das wird auch so bleiben, bis die unipolare Weltordnung, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, einem neuen Kräftegleichgewicht in einer multipolaren Ordnung weicht. Falls nicht der Krieg der Worte um Korea in einen „heißen“ Krieg mündet und die Zivilisation, wie wir sie heute kennen, zerstört wird.






Thomas Bargatzky ist emeritierter Professor für Ethnologie und Verfasser von Artikeln zu sicherheitspolitischen Fragen. Vor kurzem hat er ein Buch über den Krieg der Nato gegen Libyen fertiggestellt.

 www.thomas-bargatzky.jimdo.com