© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Wo der Weltgeist wohnt
Information statt Bildung: Bibliotheken entwickeln sich immer mehr zu bloßen Vorratskammern
Eberhard Straub

Bücher sind Lebensmittel. So hieß es noch in der DDR, die ihren Stolz darein legte, ein Leseland zu bleiben gemäß der anspruchsvollen Idee, die bildungsbürgerliche Deutsche einmal von ihrer weiten Kulturnation hatten, ein Land der Dichter und Denker zu sein. Es galt daher seit dem 19. Jahrhundert als Ehrenpflicht der deutschen Staaten, für einen geistigen und gemütvollen Wohlstand zu sorgen, für Volksbildung in mannigfachsten Abstufungen, und die heute so genannte Hochkultur zu einer möglichst jeden umfassenden Volkskultur zu erweitern.

Es lag von vornherein eine demokratische Tendenz in dieser hochherzigen Absicht. Sie entfesselte einen erstaunlich lebhaften Wettbewerb. Denn sämtliche gesellschaftlichen Kräfte sahen es ebenfalls als ihre Pflicht an, bildend zu wirken, ob Städte, Konfessionen, Arbeiter, Handwerker, Vereine aller Art oder einzelne vermögende Bürger  über Stiftungen. Damals entstand der Reichtum an Theatern, Opernhäusern, Konzertsälen, Museen und Bibliotheken, der bis heute einmalig auf der Welt ist. 

Es gibt in Deutschland immer noch über 13.000 Bibliotheken unterschiedlichster Art. Insofern scheint ein besonderer Tag der Bibliotheken, wie er am 24. Oktober – seit 1995 zum 22. Mal – veranstaltet wird, nahezu überflüssig zu sein. Doch der Schein trügt. Sämtlichen Bildungseinrichtungen von den Elementarschulen bis hinauf zu Universitäten, Theatern, Museen oder eben Bibliotheken fehlt es an einer sie legitimierenden Idee.

Mit dem Bürgertum verschwand die klassische Bildungsidee, prägnant mit Weimar veranschaulicht. Bildung ist ersetzt worden durch Information und Kommunikation. Wir leben, wie es heißt, in einer Informationsgesellschaft, die mittlerweile von vielen allerdings als eine Gesellschaft zur organisierten Desinformation erlebt wird. Es geht gar nicht mehr so sehr um geistigen Wohlstand und allgemeine Bildung, sondern um ideologisch-politische Hegemonie der Sinnstifter und Orientierungshelfer, die über die wünschenswerte Gesinnung wachen und sie gegebenenfalls herstellen. Bücher können dabei durchaus stören, vor allem wenn es sich um alte Bücher handelt, die erschienen sind lange bevor die Bundesrepublik Deutschland gegründet war, die sich selbst ununterbrochen als freiesten Staat feiert, den es je auf deutschem Boden gab.  

Unter solchen Voraussetzungen lauern in Bibliotheken ständig Gefahren, Leser mit ganz anderen Ideen und vor allem mit einer ihnen vorenthaltenen Geschichte bekannt zu machen. Diesen Gefahren kann man vorbeugen, indem Benutzer der Bibliotheken dazu angehalten werden, veraltete Produkte zu meiden und – wie beim Einkauf von Lebensmitteln – auf die Frischegarantie zu achten. Schon Bücher aus den  fünfziger Jahren stehen im Verdacht, auf Schüler und Studenten einen verderblichen Einfluß mit längst überholten Gedanken auszuüben. Das beste Mittel, solchen Schaden zu verhüten, ist, auf alte Druck-erzeugnisse gar nicht erst zu verweisen, um von vornherein keine schwer zu steuernde Altbegier zu wecken.

Vor öffentlicher Büchervernichtung scheut man zurück. Doch viele Bibliotheken sortieren mittlerweile überflüssige Ware wegen eines vermeintlich überschrittenen Verfallsdatums in regelmäßigen Abständen aus und verramschen sie zu Schleuderpreisen oder  überweisen sie in Antiquariate, in unnütze Gerümpelkammern. Aus den wirklichen Schatzhäusern, dem Gedächtnis der Kulturen und der zu ihnen gehörenden Menschen, sind Vorratskammern für den alltäglichen Bedarf geworden. Gedanken und Bücher müssen nützlich sein und zur Verbesserung der Fabriken, der Produktion und des Handels beitragen und auf diese Weise die bürgerliche Glückseligkeit fördern, ganz abgesehen von der nie zu vernachlässigenden Einübung in gemeinsame Gesinnungstüchtigkeit. 

Daran ändert auch ein Tag der Bibliotheken gar nichts. Denn Bibliotheken werden vorzugsweise für Unselbständige unterhalten, für Schüler und Studenten. Eine  berufsorientierte Ausbildung mit straffen Lehrplänen muß unbedingt Abschweifungen vermeiden und den raschen Eintritt in das Erwerbsleben ermöglichen, um dort dazu  beizutragen, daß der Standort Deutschland weiterhin attraktiv und anziehend wirkt.

Wer mitten im Leben steht, der sammelt im Internet Informationen. Läßt er sich auf ein Buch ein, dann wird er wie in fernen, noch nicht alphabetisierten Zeiten zum Hörer, der dem – jetzt freilich – unsichtbaren Vorleser lauscht. Der stille Leser, mit sich und dem Buch beschäftigt, ist zur Ausnahme geworden. Von der großen bildungsbürgerlichen Idee, daß die planvoll zusammengetragenen Büchersammlungen die immer fortschreitende Kultur veranschaulichen, ist nicht viel übriggeblieben.

Wie Kirchen und Paläste stehen die alten, klassischen Bibliotheken – soweit erhalten – als Überbleibsel herum, ein Zierat im öffentlichen Raum, nicht unähnlich der ein und anderen Antiquität in den ansonsten praktisch karg möblierten Wohnräumen. Seit den ersten großen Bibliotheken im Orient, ab dem 3. Jahrtausend vor Christus, in Ägypten, Assur und Babylon, war mit diesen Einrichtungen die feierliche Erwartung verbunden, dem Weltgeist in einem wohlgeordneten Universum sämtlicher Gedanken, die je veröffentlich wurden, auf die Spur zu kommen. Die gesamte Welt wurde als Buch verstanden. Zur Lesbarkeit der Welt und zum Begreifen, was sie im Innersten zusammen hält, gehörten Bücher, die dazu verhalfen, sich dem Sinn der nie zur Ruhe kommenden Zeiten anzunähern.

Bibliotheken waren deshalb nie profane Magazinhäuser, um in ihnen verwertbare Kenntnisse als Kunde zu erwerben. In der Antike standen sie unter dem Schutz der Musen und der Götter, die in ihrem Walten vom Wahren, Guten und Schönen kündeten, Apoll und Athena – Minerva, dabei unterstützt von den Kaisern, die den Frieden stifteten und damit die Grundlage schufen für die segenreichen Friedenswerke in Künsten und Wissenschaften. 

In der christlichen Zeit waren es vorzugsweise die Klöster, die das Buch der Bücher – die Evangelien – und das Buch der Welt in ihrer wechselseitigen Beziehung deuteten. Davon reden noch heute die großen Klosterbibliotheken aus dem 17. und 18. Jahrhundert, Festräumen geglückter Weltdeutung. Aber die Monarchen als Repräsentanten der göttlichen Weltvernunft und des splendor veritatis, der strahlenden Wahrheit, mußten auch als wahre Friedensfürsten den Triumphzug der Künste und Wissenschaften anführen, wie es nirgends so pathetisch veranschaulicht wurde wie im Kuppelsaal der kaiserlichen Bibliothek in Wien, einer gebauten enthusiasmierenden Prunkrede.

In anderen berühmten  Bibliothekssälen wie die in Wolfenbüttel oder der Herzogin-Anna-Amalia- Bibliothek in Weimar wird nicht mit so ausschweifender Pracht die Lesbarkeit der Welt durch den von Gott aufgeklärten, erleuchteten Menschen beschworen. Doch es gibt dort genug Hinweise, daß im Schatzhaus des Wahren, Guten und Schönen sittliche Kräfte wirken, die den Adel des Menschen ausmachen. An ihn erinnern noch die großen überkuppelten Lesesäle quer durch Europa im 19. Jahrhundert, in säkularisierten Formen ihr Vorbild variierend, die Hagia Sophia in Konstantinopel, die Palastkirche der göttlichen Weisheit.  

Der Tag der Bibliotheken, der Gegenwart verhaftet, nämlich dem literarischen Supermarkt als praktischer Ratgeber, Helfer bei beruflicher Fortbildung, als Ort geselliger Begegnungen von Kindern bis zu Senioren und wichtiger Bestandteil der Zeitvertreibindustrie mit allerlei Abwechslung verheißenden Sonderangeboten, ruft dennoch ins Gedächtnis auch die verlorene Bibliothek zurück. Bibliotheken waren immer verletzliche Einrichtungen, von Feuer und geistfernen Leidenschaften bedroht. Bücher und Büchersammlungen haben ihr Schicksal. Der Mensch als weltdeutender Bibliothekar stirbt aus oder ist schon verschwunden. Ein großer Dichter und Bibliotheksdirektor, der Argentinier Jorge Luis Borges, ließ sich davon nicht erschüttern. Denn die Bücher und die Bibliotheken überleben den Menschen, den sterblichen und unvollkommenen Bibliothekar, weil mit dem unsterblichen göttlichen Weltgeist im Zusammenhang, der sich als Wort, in Buchstaben und in der Welt als Buch zu erkennen gibt, ohne Rücksicht darauf, ob er noch Leser findet, die ihn überhaupt erkennen wollen.