© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Vom Leviathan zum Golem
Angela Merkel: Die Kanzlerin deckt, mit Ausnahme der AfD, das gesamte politische Spektrum ab
Thorsten Hinz

Als herausragendes Ergebnis der Bundestagswahlen werden – neben dem Erfolg der AfD – die großen Verluste der Union hervorgehoben, die vor allem auf das Konto Angela Merkels gingen. Für diese Interpretation spricht viel, doch ist auch eine ganz andere Deutung möglich: Die Union hat immerhin ein Drittel aller abgegebenen Stimmen erhalten, was angesichts der verheerenden Regierungsbilanz Merkels geradezu aberwitzig erscheint. So aberwitzig wie die Energiewende; die Vermögensvernichtung durch Euro-Rettung und Transfersunion; wie die schlechten Beziehungen zu Rußland wie den östlichen EU-Partnern; wie die Masseneinwanderung mit den bekannten Folgen. Die Zunahme der Schnüffel- und Zensurpraxis fällt ebenfalls in Merkels Kanzlerschaft.

Das politische Credo, das sie praktiziert, ist in der Aussage vom Oktober 2015 enthalten, es liege „nicht in unserer Macht, wie viele nach Deutschland kommen“. Auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise verwarf Merkel in der ARD bei Anne Will alle Vorhaltungen ihrer Kritiker: „Sie können die Grenzen nicht schließen. Wir haben 3.000 Kilometer Landgrenze. Dann müssen wir einen Zaun bauen. Es gibt den Aufnahmestopp nicht.“

Sie genießt die Macht um ihrer selbst willen

Das war und ist ein Frontalangriff auf den Bestand des Staates, der auf der Dreiheit aus Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt beruht. Das Staatsvolk, sein Eigeninteresse, seine Freiheits- und Abwehrrechte erklärte Merkel für unerheblich; sein Staatsgebiet gab sie preis, und die Gesetzlosigkeit erhob sie zum Gesetz. Der Eingriff in den inneren Bestand und die verfassungsmäßige Ordnung des Staates ist durchaus vermerkt worden, doch hatte das auf die Debattenlage und die öffentliche Wahrnehmung Merkels keinen Einfluß. Im Gegenteil, ein regelrechter Personenkult wurde in Gang gesetzt, der auch den Bundestagswahlkampf prägte und dem sogar die politischen Konkurrenten – die AfD immer ausgenommen – ihre Reverenz erwiesen.

Das ist erstaunlich, weil Merkel über keine der Eigenschaften verfügt, durch die Politiker in der Mediengesellschaft normalerweise Wirkung erzielen. Auch ihr intellektuelles Charisma ist gering. Legendär hingegen ist ihre Überzeugungsfreiheit, und die Erkenntnis, daß sie die Macht um ihrer selbst willen genießt, gehört zum Allgemeinwissen – wie übrigens die Attacke des geschlagenen Martin Schulz in der Berliner Fernsehrunde nach der Wahl eindrucksvoll zeigte. 

Zum Ausgangspunkt für eine politische Kritik wird das dennoch nicht, weil die etablierten Parteien – von ein paar Dissidenten abgesehen –, die Medien, Großorganisationen, Kirchen: die ganze sogenannte Zivilgesellschaft die Politik der Kanzlerin inhaltlich teilen oder sogar noch forcieren wollen. Merkel deckt mehr oder minder das gesamte politische Spektrum ab und verfügt über ein großes Maß an Repräsentanz. Die Basis dafür ist ein gesinnungsethisches Politikverständnis, das sich auch bei den mit der Grenzöffnung 2015 verbundenen Rechtsbrüchen bewährt hat. Vordergründig wirkt Merkel ausgleichend, während die zerstörerischen Effekte ihrer Politik sich erst langsam, aber sicher einstellen. Natürlich wird sie auch die vom französischen Präsidenten Macron geforderte finanzielle Haftungsgemeinschaft einführen. Aber nicht mit lautem Hurra wie Martin Schulz das möchte, sondern langsam, unmerklich, als eine Folge alternativloser Sachzwänge. Weil der gesamte politisch-mediale Komplex und die Zivilgesellschaft in der gesinnungsethischen Europa-Ideologie befangen sind, hat sie keinen ernsthaften Widerstand zu gewärtigen.

Der Staat hat seine Funktion aufgegeben

Die aktuelle „Zerstörung“ des Staates bedeutet nicht, daß die staatlichen Organe prinzipiell machtlos wären. Von ihren repressiven Energien können die Kritiker der politischen Gesinnungsethik ein Lied singen. Das Wort „Zerstörung“ meint, daß er seine Funktion als die Organisationsform, mit der sich das deutsche Volk im politischen Raum behauptet, aufgegeben und ins Gegenteil verkehrt hat. Wobei das Paradoxon darin liegt, daß nicht nur die politisch-mediale Klasse aktiv in diesen Prozeß involviert ist, sondern auch diejenigen, die dadurch schutzlos gemacht und als Beute freigegeben werden. Immerhin haben sich die 87 Prozent der Wahlteilnehmer, die für die Etablierten stimmten, de facto mit ihrer Opfer-Funktion einverstanden erklärt.

Die Zerstörung und Umfunktionierung des Staates läßt sich anhand der von Thomas Hobbes geprägten „Leviathan“-Metapher gut illustrieren. Hobbes Staats-Leviathan wurde lange als „polemisches Schreckbild eines ‘totalitären’ Staates“ in Verruf gebracht und „zu einem grauenhaften Golem oder Moloch aufgedröhnt“. So Carl Schmitt, der dieses Bild 1937 in seinem „Leviathan“-Buch gründlich und dauerhaft korrigiert hat.

Das Titelblatt der 1651 erschienenen Erstausgabe von Hobbes „Leviathan“ zeigt das Halbkörperbild einer Riesenfigur, die sich aus vielen Einzelpersonen zusammensetzt. In der einen Hand hält sie ein Schwert, in der anderen einen Bischofsstab. Die Arme sind schützend über die Stadt gebreitet. Es ist die Metapher für einen Staat, der nach innen befriedet und vor äußeren Gewalten Schutz bietet.

Dieser wohlverstandene Leviathan ist tot. Die Monumentalgestalt, die heute umgeht, hat man sich als einen Golem vorzustellen, der Merkels Kopf trägt. Sein Riesenleib umschließt die etablierten Politiker, die Manager aus der Wirtschaft, Journalisten, Kirchen- und Gewerkschaftsführer, politisch korrekte Aktivisten – also alles, was zur sogenannten Zivilgesellschaft zählt –, aber eben auch eine Mehrheit der Wähler. Der Golem schreitet zerstörerisch über die Stadt und das Land hinweg. In der einen Hand hält er eine Schraubzwinge, die ihm als Steuerpresse dient, in der anderen Hand das Strafgesetzbuch, wo ein Lesezeichen den Paragraphen 130 (Volksverhetzung) markiert.

Die Mutation vom schützenden Leviathan zum zerstörerischen Golem ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, die sich in Deutschland in besonders dramatischer Form vollzog. Schmitt sprach von den „indirekten Gewalten“, den „Mächten der Gesellschaft“, insbesondere von den Gewerkschaften und Kirchen, die sich mittels der Parteien den Staat zu eigen machten. Die gefährlichste Gewalt war 1937 natürlich der Nationalsozialismus, eine auf permanente Bewegung angelegte totalitäre Ideologie und Praxis. Er zerstörte den Staat nicht nur von innen, indem er ihn sich unterwarf, um den Bürgerkrieg gegen seine Gegner zu institutionalisieren, er schuf auch die Voraussetzung dafür, daß er durch äußere Mächte zerbrochen werde konnte.

Die Politik nach 1945 läßt sich einerseits als den Versuch lesen, den Leviathan wiederzubeleben. Ein anschauliches Beispiel ist die Fernsehansprache, mit der Kanzler Helmut Schmidt im Herbst 1977 auf die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch RAF-Terroristen reagierte und als Verteidiger des Leviathan-Staates auftrat. Allerdings hatten die Gegenkräfte dessen mühsam wieder eingezogene Stützpfeiler längst unterminiert.

Paranoide Gesinnung der Zivilgesellschaft

Dieser Zerstörungsprozeß ist seitdem weit fortgeschritten. Zu den alten indirekten Gewalten sind in den letzten 70 Jahren neue hinzugetreten: multinationale Konzerne, die Frankfurter Schule, transatlantische und globalistische Seilschaften, die verbeamtete Vergangenheitsbewältigung, die EU, die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie die „Zivilgesellschaft“, die ihre geistig-moralischen Energien aus hypermoralischen Versatzstücken und nationalem Selbsthaß bezieht und einen regelrechten Antistaat bildet. Ihre paranoide Gesinnung hat inzwischen alle etablierten Parteien erobert und über diese auch den Staat. Die Regenbogenfahne, die an öffentlichen Gebäuden neben der Staatsflagge gehißt wird, ist ein vergleichsweise harmloses Symbol einer staatsfeindlichen Übernahme.

Es ist nur logisch, daß der staatsfeindlich infiltrierte Staat diejenigen als seine Feinde bekämpft, die ihn in seine alte Schutzfunktion wieder einsetzen wollen, während er jene, die seine Schutzfunktion lähmen, indem sie sich beispielsweise als ehrenamtliche Schlepper betätigen, seiner Unterstützung versichert. Rolf Peter Sieferle hat in „Finis Germania“ geschrieben: „Nachdem das Aas des Leviathan verzehrt ist, gehen die Würmer einander an den Kragen.“ Dieses Bild ist korrektur-, zumindest aber ergänzungsbedürftig: Die derart gemästete Gemeinschaft der Würmer hat sich nämlich zum Golem aufgedröhnt.

In Merkel hat er seine Gestalt gefunden. Da sie kein politisches Konzept hat und politisch überzeugungsfrei ist, kann sie die disparatesten Energien und Ideen in sich aufnehmen, wenn sie nur dem Machterhalt dienen.