© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/17 / 20. Oktober 2017

Doppelkorn und bourgeoise Leichen
Fünfzig Jahre später hat ein linkes Autorenduo einen Rückblick auf 1968 in Frankfurt am Main vorgelegt
Werner Olles

Kommendes Jahr wird das politisch-kulturelle Establishment der Bundesrepublik das fünfzigjährige Jubiläum der 68er-Kulturrevolution feiern. In vorauseilendem Gehorsam legen Claus-Jürgen Göpfert, Lokalredakteur der linken Frankfurter Rundschau, und Bernd Messinger, Habermas-Schüler und ehemaliger grüner Vizepräsident des Hessischen Landtags, mit „Das Jahr der Revolte – Frankfurt 1968“ ein Werk vor, das die prominentesten Köpfe des SDS vorstellt, aber auch den Anspruch hat, jene spezifische Frankfurter Revolutions-Atmosphäre wiederzugeben, die es nirgendwo sonst in der Bundesrepublik gab. 

Die Berliner hatten die „DDR-Abhauer“ Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, die Frankfurter die Brüder Karl Dietrich und Frank Wolff, Hans-Jürgen Krahl, Günter Amendt und den mit der Chuzpe des Pariser Barrikadenkämpfers ausgestatteten „roten Dany“ Daniel Cohn-Bendit. Im Westend residierte zudem der SDS-Bundesvorstand. Intellektueller Kopf des SDS war Hans-Jürgen Krahl (Rudi Dutschke: „Der Klügste von uns allen“), dessen Portrait am dürftigsten ausfällt. 

Krahls politische Vergangenheit im Ludendorff-Bund, der Welfenpartei, der Deutschen Partei, der schlagenden Verbindung Verdensia Göttingen und als Gründungsmitglied der Jungen Union im niedersächsischen Alfeld wird nur mit einem Halbsatz gestreift. Für die Autoren war er der „Vordenker“, in Wahrheit dachte er nur darüber nach, was Adorno („In Krahl da heulen die Wölfe“), Heidegger, Nietzsche, Horkheimer und Marcuse vorgedacht hatten. Im SDS, dem er 1964 in Frankfurt beitrat, fristete der schwule Alkoholiker auf merkwürdige Weise entrückt eine isolierte Existenz, von den Genossen ob seiner politisch-philosophisch geschliffenen Texte und Reden bewundert, aber nicht geliebt. 

Falsch ist, daß Krahl bei der Beerdigung Adornos Störern Prügel androhte, doch verbat er den Genossen, „bei dieser bourgeoisen Leiche die Internationale zu singen“. Unerwähnt bleibt, daß er jahrelang bei dem Schriftsteller Ernst Herhaus wohnte, und dieser sich nach Krahls Tod im Februar 1970 bei einem Verkehrsunfall auf einer oberhessischen Landstraße bitter darüber beklagte, daß nach dessen Heimgang die Deintellektualisierung des SDS nun endgültig sei. Noch am Tag seiner Beisetzung löste sich der SDS hektisch auf. 

Krahl, der sich selbst gern als Novalis-Nachfahre aus dem Geschlecht derer von Hardenberg inszenierte, seine völkisch-antisemitischen Anfänge übermarxistisch als „Ideologie der Erde“ interpretierte, war ein „organischer Intellektueller“, er hielt das parlamentarische System für unbrauchbar und plädierte wie Dutschke für einen Räte-Sozialismus. Hört man seine „Römerberg-Rede“ bei der vom DGB organisierten Anti-Notstandskundgebung am 1. Mai 1968, in der er von einem „neuen Faschismus“, „Schutzhaft und Arbeitslagern“ für die linke Opposition phantasiert, glaubt man zu träumen. Der private Krahl war indes ein liebenswert chaotischer, oft verzweifelt und in sich gekehrter Mensch, der nach etlichen Bier und Doppelkorn im Bockenheimer „Café Do“ seine Lieblingsplatten von Heintje hörte, mit seinem Glasauge spielte und dabei das Niedersachsenlied anstimmte.

Die Gesellschaft war längst dabei, sich zu liberalisieren

Breiter fällt das Portrait des SDS-Vorsitzenden Karl Dietrich (K.D.) Wolff aus. Interessant ist hier, daß die Autoren mit keinem Wort darauf eingehen, daß in Wolffs „Roter Stern“-Verlag auch die späteren Top-Terroristen Johannes Weinrich und Winfried Böse beschäftigt waren. K.D., heute mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnetes Rotary-Mitglied, legt immerhin Wert darauf, nie die Grünen gewählt zu haben und lehnt es ab, sich publizistisch am „Kampf gegen Rechts“ zu beteiligen. 

Am umfangreichsten ist das Portrait Cohn-Bendits. Mit Krahl konnte der bekennende Hedonist nichts anfangen und macht sich heute noch über dessen Heintje-Begeisterung lustig. Unglaubwürdig ist sein Bekenntnis der Gewaltlosigkeit. Abgesehen, daß er später gemeinsam mit Joseph Fischer einer der Befürworter des völkerrechtswidrigen Nato-Überfalls auf Serbien war, gibt es auch Zeugen, die seine damalige „Gewaltlosigkeit“ in Frage stellen.

Wolfgang Kraushaar hat das Märchen vom angeblich emanzipatorischen Charakter der 68er als Lebenslüge entlarvt und erklärt, wie es dazu kam, daß sie als Erben des Nationalsozialismus diesem auf elende Weise zum Verwechseln ähnlich wurden. Während SDS-Gruppen von Frankfurt nach Amman flogen, um sich in Fatah-Lagern militärisch ausbilden zu lassen, schrieb Adorno an Marcuse von einem „Umschlagen der Studentenbewegung in Faschismus“ und warnte Jean Améry vor einem neuen „ehrbaren Antisemitismus“, der sich „in Gestalt des Antizionismus“ ausbreite, jedoch in Wahrheit lediglich eine „Ummäntelung des Antisemitismus“ darstelle. Die 68er-„Kulturrevolution“ richtete sich gegen eine Gesellschaft, die längst dabei war, sich zu liberalisieren und ihnen Tor und Tür öffnete. Bewußt oder unbewußt avancierten ihre Protagonisten zu nützlichen Idioten einer neoliberalen Globalisierung. 

Frankfurt, die ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“, ist heute die Finanzmetropole Europas. Das System, das sie zu bekämpfen vorgaben, integrierte sie problemlos, und die ehemaligen Straßenkämpfer machten es sich am Spucknapf der Bourgeoisie gemütlich. Die Intoleranz und der Totalitarismus, mit der die Bewegung von Anfang an infiziert war, erheben heute wieder ihr Haupt, um eine konservative und „rechte“ Opposition zu eliminieren, die nicht – wie die Linke – zum System gehört wie der Deckel zum Topf. So gesehen ist Krahls „Römerberg-Rede“ vom drohenden Faschismus und den Lagern für Andersdenkende aktueller denn je.






Werner Olles, Jahrgang 1942, war 1968/69 Mitglied im Frankfurter SDS und schrieb bis Anfang der Siebziger auch für die Szene-Zeitschrift „Agit 883“. Danach engagierte er sich in Splittergruppen der „Neuen Linken“.

Claus-Jürgen Göpfert, Bernd Messinger: Das Jahr der Revolte – Frankfurt 1968. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2017, gebunden, 299 Seiten, 22 Euro