© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Mehr Leben in der Bude
„Aufbruchstimmung“ und „Das hat gutgetan“: Eindrücke von der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages – erstmals mit der AfD
Christian Vollradt

Das Besondere dieses Tages ist schon vor dem Reichstagsgebäude spürbar. Auffallend viele dunkle Limousinen bahnen sich den Weg durch den dichten Großstadtverkehr, zusätzliche Polizisten säumen die Zufahrten, und an den Sicherheitsschleusen stauen sich Kamerateams und  Journalisten aus dem In- und Ausland. Da fallen die 709 neu- oder wiedergewählten Bundestagsabgeordneten, die am Dienstag zur konstituierenden Sitzung zusammenkommen, fast gar nicht auf. Doch es ist etwas anders, eine gewisse Spannung liegt in der Luft. So viele Abgeordnete wie noch nie, außerdem sechs Fraktionen. 

Im Fokus des Interesses natürlich die AfD, die „Neuen“. Deswegen ist die Pressetribüne auf der gegenüberliegenden, der linken Seite als erstes überfüllt mit Reportern und Fotografen, die ihre Objektive in Stellung bringen. Wer allerdings provokative Gesten erwartet hat wie etwa 1983, als die Grünen erstmals in den Bonner Bundestag einzogen und vertrocknete Tannenzweige („Waldsterben“) mitbrachten und im Norwegerpulli erschienen, wird enttäuscht. „Wir sind Bürgerliche aus der Mitte der Gesellschaft“, stellt ein AfD-Abgeordneter beim späteren Plausch in der Lobby klar, da brauche es keine Mätzchen.


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Nicht in der Form, wohl aber mit Inhalten will die AfD Nadelstiche setzen, das hat ihre Fraktionsführung immer wieder betont. Das macht auch ihr Erster Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann deutlich, der die erste Rede für seine Fraktion hält. Die Debatte zur Geschäftsordnung, in die die AfD einen Änderungsantrag einbringt, nutzt der Hamburger zur Abrechnung mit der „Lex AfD“, der willkürlichen Abweichung von einer über 150 Jahre alten Tradition des deutschen Parlamentarismus. Um einen Alterspräsidenten aus den Reihen der AfD zu verhindern, wurde das sonst übliche Lebens- durch das Dienstalter ersetzt. Baumann hält den anderen Fraktionen entgegen, nur der Nationalsozialist Hermann Göring habe 1933 gleichermaßen gehandelt. Ein empörtes Raunen aus den anderen Reihen schlägt ihm entgegen. 

Bei der Abstimmung zu anderen Geschäftsordnungsanträgen lassen sich interessante Konstellationen beobachten. Informell, so scheint es, hat sich die Jamaika-Koalition schon gebildet; jedenfalls schnellen auffallend oft die Hände bei Schwarzen, Gelben und Grünen zeitgleich in die Höhe. Andererseits gibt es auch nicht durchgehend eine ablehnende Front aller gegen die AfD, sondern durchaus auch eine rot-blaue Opposition.


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Das zufriedenste Gesicht macht gar kein Abgeordneter, sondern ein Mann auf der Besuchertribüne. AfD-Parteichef Jörg Meuthen schwebt während der Sitzung sozusagen über den Dingen. Unter ihm – im Plenum – die 92 Abgeordneten der Fraktion der Alternative für Deutschland im Deutschen Bundestag, so der etwas sperrige offizielle Name. Im zweiten Anlauf drittgrößte Kraft des höchsten deutschen Parlaments. „Meine Leute“, sagt Meuthen – und strahlt. Dafür habe sich all der Kampf, all das Aufreiben gelohnt, resümiert er; auch wenn er selbst kein Mandat hier innehat. Anders als Frauke Petry, seine ehemalige Co-Vorsitzende, ehemalige Parteifreundin. Sie ist Mitglied des Bundestags, aber seit dem ersten Tag nach der Wahl nicht mehr in der AfD. Neben dem ebenfalls ausgetretenen Mario Mieruch aus Nordrhein-Westfalen sitzt die direkt gewählte Abgeordnete aus Sachsen nun ganz hinten im Plenum – als Fraktionslose. Irgendwie drin, und doch nicht mehr dabei; bei Meuthen verhält es sich quasi umgekehrt. 


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Eine „gewisse Befriedigung, wieder hier zu sein“, verspüre er schon, sagt Martin Hohmann der JUNGEN FREIHEIT. Für den hessischen AfD-Politiker ist es eine Rückkehr, auch eine Art Wiedergutmachung. Hohmann ist der einzige in seiner Fraktion, neben dessen Foto im Abgeordnetenhandbuch mehr als ein Sternchen steht; es ist seine dritte Legislaturperiode, wenn auch die erste mit neuem Parteibuch. Bis 2005 saß er im Bundestag, zuletzt als Fraktionsloser, davor hatte er seinen Wahlkreis bei Fulda zweimal für die CDU direkt gewonnen. 2003 war er wegen einer vermeintlich antisemitischen Rede auf Druck der Führung aus Fraktion und Partei ausgeschlossen worden. Die unfaire Art und Weise, wie dies ablief, hatte dem tiefgläubigen Katholiken Hohmann zugesetzt. Daß ihn einzelne Unionsabgeordnete, mit denen er menschlich immer gut konnte, nun auch im neuen Bundestag wieder freundschaftlich begrüßten, habe gutgetan, berichtet er.


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Daß Albrecht Glaser, der Kandidat der AfD für den Posten eines Stellvertreters des Bundestagspräsidenten durchfällt, damit haben alle gerechnet. Denn ihre Ablehnung hatten die anderen Fraktionen schon lange vorab deutlich signalisiert. Glasers weitreichende Kritik des politischen Islam wurde als Einschränkung der Religionsfreiheit interpretiert. Dennoch bekommt der frühere Frankfurter Kämmerer in jedem der drei Wahlgänge mehr Stimmen, als seine Fraktion Mitglieder hat. Die Linie hatte die AfD schon vorher festgelegt: es wird in der konstituierenden Sitzung keinen Plan B, keinen Alternativkandidaten geben. Das weitere Vorgehen will die Fraktion in den anschließenden Beratungen erörtern. Ergebnisoffen. 


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Ebenfalls im Vorfeld der Sitzung ließ die AfD keinen Zweifel, daß sie Wolfgang Schäuble nicht zum Bundestagspräsidenten wählen werde. Er hatte im Wahlkampf die Partei als „Schande für Deutschland“ bezeichnet; außerdem stehen seine Aktivitäten bei der Euro-Rettung den Vorstellungen der AfD diametral entgegen. Als der neugewählte Präsident dann redet, applaudieren immer wieder auch AfD-Abgeordnete. Im Gespräch während der Sitzungsunterbrechung sagen viele, sie seien von Schäubles Worten in der Summe positiv überrascht gewesen. Er habe sich wider Erwarten doch sehr überparteilich gegeben. Wie andere Redner – ob Sozialdemokraten, Grüne oder Linke – vor ihm, betonte Schäuble die Notwendigkeit des durch parlamentarische Regeln eingehegten Streitens in der Demokratie. Er erinnerte an die politisch aufgeladenen Zeiten, als es um Ostverträge oder den Nato-Doppelbeschluß ging. Zufall, daß im Wahlkampf der jetzige AfD-Fraktionschef Alexander Gauland ebenfalls diese Vergangenheit als beispielhaft hervorgehoben hatte? Als sich die Debatten in der Gesellschaft im Bundestag, dem höchsten deutschen Entscheidungsgremium, widerspiegelten. In den Bundestag gehöre, was die Leute am Küchen- und Stammtisch bewege, hatte auch SPD-Mann Carsten Schneider gefordert. 


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Von Aufbruchstimmung ist bei vielen AfD-Politikern die Rede, mit denen man sich auf den Fluren unterhält. Alle erwarten, daß mehr „Leben in die Bude kommt“, daß nicht alles mit Konsens-Soße übergossen werde. Im kollegialen Miteinander und mit Anstand, verstehe sich. „Wir müssen jetzt liefern“, sagt einer und verabschiedet sich rasch in den Plenarsaal.





Gaucks neue Nachbarin

Dorotheenstraße 93, Erdgeschoß, Zimmer 27. Die neue Adresse der AfD-Bundestagsabgeordneten Joana Cotar (44) aus Hessen. „Jedenfalls für vier Monate“, sagt die Politologin. So lange wird es dauern, bis sie aus dem Provisorium, das sie mit Partei-Kollege Uwe Schulz teilt, in ihr festes Büro einziehen kann. „Das ist okay, wir verstehen uns gut. Schließlich müssen 2.000 Büros umziehen, 20 Umzüge pro Tag, eine Leistung der Verwaltung.“ 15.45 Uhr, gerade kommt sie aus der dritten Fraktionssitzung. „Es ging nur um die morgige konstituierende Bundestagssitzung.“ Jetzt steht Cotar am Schreibtisch und sortiert die paar Habseligkeiten, die sie von zu Hause mitgebracht hat. Dann will sie sich umschauen. Cotar hat einen schnellen Schritt, geht die langen Gänge im „Doro“, so wird der Bau genannt, ab. Sie liest die Türschilder. Einen Liegeraum gibt es hier. Kollege Kay Gottschalk aus Nordrhein-Westfalen trifft sie auf dem Flur, er hat Probleme mit dem Internetempfang. Seit dem Wahlabend weiß Cotar, die 2013 in die AfD eintrat, daß sie, Tochter eines politischen Flüchtlings aus Rumänien, der sechs Jahre unter Ceausescu im Gefängnis saß, in den Bundestag einzieht. „Das ist immer noch etwas surreal für mich.“ Angekommen an einem Treppenaufgang, steigt sie einige Stufen hoch. „Über uns sind übrigens die Büros des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck“, und dabei schmunzelt sie. „Wir sind Nachbarn.“ (mec)





Zündstoff für den Macher

Das Büro im ersten Stock mißt knappe 20 Quadratmeter. Zwei Schreibtische, zwei Rollschränke mit je vier Schubladen, zwei Stühle, ein blauer Papierkorb sind irgendwie hineingestellt. Dirk Spaniel (45) bezieht an diesem Montag morgen seinen neuen Arbeitsplatz. Der AfD-Abgeordnete aus Stuttgart bringt eine Erstausstattung im Alu-Pilotenkoffer mit. Mittwoch vergangener Woche hat er Bescheid bekommen, daß hier in dem repräsentativen Altbau seine Fraktion ihre Abgeordnetenbüros beziehen wird. Für eine Übergangszeit jedenfalls. 600 Meter sind es zum Reichstagsgebäude. Er wird sich mit seinem Fraktionskollegen Markus Frohnmaier das Büro teilen. „Wozu klagen, daß das Büro zu klein ist. Wir wollen dieses Land verändern!“ Spaniel, von Beruf Entwicklungsingenieur bei Daimler, fängt gleich mal an. Rückt die Tische zurecht. Kniet sich hin, entwirrt die Kabel unter dem Tisch, schließt das winzige HP-Laptop an, das von der Bundestagsverwaltung zur Verfügung gestellt wird, sowie die Design-Schreibtischlampe mit grünem Öko-Aufkleber. „Mindestens 500 Euro, wenn nicht 800. Ich hätte die nicht angeschafft, auf Steuerzahlers Kosten. Aber nehmen Sie doch bitte Platz!“ Er greift zum Handy und ruft die Arbeitsgruppe Umzug an: „Es fehlen Tische und Stühle für unsere Landesgruppe!“ Auf dem Stehtisch ein Päckchen gerösteter Cashewnüsse mit Chili und Salz, Marke „Zündstoff“. Noch ungeöffnet. Dann kann’s ja losgehen! (ru)





Auf der Sonnenseite 

Der Flur im Erdgeschoß ist blau ausgelegt. Anton Friesen schreitet gemeinsam mit Mitarbeiterin Beate Prömm die Zimmerflucht ab. Wo nur ist die Teeküche? Ach dort, am Übergang zum Treppenhaus! Die Hängeschränke sind noch ganz leer, die Arbeitsplatte unbenutzt. „Aber wenigstens gibt’s schon mal einen Snackautomaten.“ Der 32 Jahre junge Politologe arbeitete bisher als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Thüringer AfD-Fraktion. Jetzt bezieht der Bundestagsabgeordnete zusammen mit Parteifreund Jürgen Pohl ein kleines Büro. Zwei Sekretärinnen mit Schreibtischen sollen dort auch noch Platz finden. „Ja, geräumig ist das nicht.“ Friesen nimmt’s gelassen. Drucker und Fax sind noch nicht da, „und das WLan funktioniert noch nicht“. Ein Plan des Berliner Regierungsviertels liegt auf dem Tisch. Friesen beugt sich darüber, studiert mit Frau Prömm die Legende. „Die Sitzung der Fraktion war ja heute im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das ist hier“, deutet er mit dem Finger auf den Spreebogen. Kuddelmuddel gab es um die Raumzuteilung. „Letzte Woche mußten wir zum Pförter, noch mal neue Schlüssel abholen“, erzählt der junge Mann, der in den neunziger Jahren als Spätaussiedler aus Kasachstan kam. „Statt der 49 bekamen wir Zimmer 51 zugeteilt. Kein Problem, alle waren sehr nett zu uns.“ Seine Kollegin hat schon gehört, wie beliebt im Hause diese Fensterflucht zum großzügigen Innenhof ist. „Das ist die Sonnenseite.“ (ru)