© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/17 / 27. Oktober 2017

Fatales Spiel mit vielen Bällen
Am 2. November 1917 verpflichtete sich Großbritannien mit der Balfour-Deklaration, den Aufbau einer jüdischen Nationalheimstätte in Palästina zu unterstützen
Dag Krienen

Im November 2001 ermahnte Osama bin Laden in einer Video-Botschaft seine Anhänger zum Heiligen Krieg gegen die westlichen Mächte und erinnerte sie daran: „Seit dem Ersten Weltkrieg, der vor mehr als 83 Jahren endete, steht die gesamte islamische Welt unter dem Banner der Kreuzfahrer (...). Sie teilten die ganze Welt unter sich auf, und Palästina fiel den Briten in die Hände. Seit damals, seit 83 Jahren werden unsere Brüder, Söhne und Schwestern in Palästina furchtbar gequält.“

Bin Laden spielte wie selbstverständlich auf historische Ereignisse an, die in der islamischen und insbesondere der arabischen Welt als der große Betrug in Erinnerung sind, den die Westmächte, insbesondere Großbritannien, 1917 begangen haben sollen, indem sie die arabischen Territorien des Osmanischen Reiches gleich dreifach vergaben. Zunächst versprachen die Briten, um die Araber für einen Aufstand gegen ihre osmanischen Oberherren zu gewinnen, dem Großscherif von Mekka, Husain bin Ali, die Errichtung eines unabhängigen Arabiens (Briefwechsel Husseins mit dem britischen Hochkommissar in Ägypten, Henry MacMahon, Juli 1915 bis Februar 1916). 

Zur gleichen Zeit handelten britische und französische Unterhändler das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 aus (JF 20/16), das die arabischen Provinzen des osmanischen Reiches zwischen Frankreich und Großbritannien aufteilte. Am 2. November 1917 erklärte Außenminister Arthur James Balfour schließlich in einem offiziellen Brief an Lord Walther Rothschild, daß die britische Regierung „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ mit „Wohlwollen“ betrachten und „ihr Bestes tun“ würde, um „die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern“. Seit kurzem ist zudem bekannt, daß die Briten insgeheim bis Anfang 1918 auch noch mit den Türken verhandelten, um das Osmanische Reich durch einen Sonderfrieden, der ihm Palästina belassen hätte, aus dem Block der Mittelmächte herauszubrechen.

Balfour-Deklaration als ein Grundstein Israels

In der arabisch-muslimischen Welt wird entsprechend die Vorstellung einer großen, immer noch aktiven Verschwörung der Westmächte, insbesondere der USA als Erbe des britischen Imperialismus sowie der Israelis als dessen Statthalter vor Ort, kultiviert. Sie bildet für den Nahost-Konflikt und den islamischen Terror einen zentralen Referenzpunkt. Die Balfour-Deklaration von 1917, die von den Israelis als ein Grundstein ihres Staatswesens betrachtet wird, gilt dabei auch bei einigen westlichen Fachleuten als jene „Ursünde“, die den Konflikt zum unlöschbaren Dauerbrenner werden ließ. 

Betrachtet man die damaligen Entscheidungen genauer, so hatten sie ihre letzte Ursache tatsächlich in einem westlichen, dem britischen Imperialismus. London ging es 1917 allerdings nicht um die Unterwerfung der Araber oder gar aller Muslime. Ziel war vielmehr zum einen die langfristige Absicherung des Suezkanals, der Schlagader des Empires auf dem Seeweg nach Indien. Zum anderen ging es den Briten kurzfristig um die Erhaltung alter und der Gewinnung neuer Verbündeter in einem Weltkrieg, der die Kräfte des Weltreichs so stark strapazierte, wie es seit einem Jahrhundert nicht mehr der Fall gewesen war.

Zu letztgenanntem Zweck machte London gemäß alter Tradition Versprechungen in viele Richtungen, die es zugleich hinreichend unbestimmt hielt, um sich nicht unerfüllbare oder untereinander widersprechende Verpflichtungen aufzuerlegen. Was ihnen bislang oft genug gelungen war, ein Spiel mit vielen Bällen zur gleichen Zeit, versuchten die Briten 1914 bis 1918 auch im Nahen Osten. Ihre Zusicherungen bezüglich der arabischen Unabhängigkeit waren freilich ernst gemeint, blieben aber, was deren geographische Reichweite anging, immer nur vage. 

Das Sykes-Picot-Abkommen wiederum sah neben der direkten Inbesitznahme der syrisch-libanesischen Küste durch Frankreich und Mesopotamiens durch Großbritannien für weite Gebieten die Einsetzung arabischer Herrscher unter französischer und britischer Oberaufsicht und für Palästina eine internationale Verwaltung vor. In den Text der Balfour-Deklaration übernahmen die Briten nicht die von zionistischer Seite vorgeschlagene Bezeichnung Palästinas als der Heimstätte der Juden, sondern garantierten nur eine nationale Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina, wobei dort „nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften“ in Frage stelle. 

Die kurzfristigen Gewinne, die London so einfahren wollte, um seine Kriegführung zu stärken, waren teilweise offensichtlich. Die frühzeitige Absprache mit einem wichtigen Verbündeten über die Verteilung der Beute vermied Friktionen bei der gemeinsamen Kriegführung. Nach dem Eintritt des Osmanischen Reiches in den Krieg auf seiten der Mittelmächte im Herbst 1914 rief der Sultan und Kalif in Konstantinopel alle Moslems zum Heiligen Krieg gegen die Entente-Mächte auf. Großscherif Husain war Herr der heiligsten Stadt des Islams und zugleich direkter Nachfahre des Propheten Mohammed. Sein Seitenwechsel zu den Briten degradierte den osmanischen „Dschihad“ zu einem substanzlosen Schatten. 

Im Fall der Balfour-Deklaration ist der erhoffte Vorteil schwerer auszumachen. Der internationale Zionismus war 1914 keine Bewegung von Bedeutung, ja selbst im Judentum war er umstritten. Die meisten assimilierten Juden in Westeuropa lehnten ihn – mit wenigen Ausnahmen wie den Rothschilds – ab, weil sie fürchteten, daß eine Selbstdefinition der Juden als eigene Nationalität ihre Integration in ihre jeweiligen Heimatländer gefährden würde. Zu den wichtigsten Gegnern der Balfour-Deklaration gehörten bis zuletzt die meisten der assimilierten britischen Juden.

Daß die englischen Zionisten ihren Einfluß auf die britische Politik nach 1914 stark steigern konnten, verdankten sie unter anderem der erfolgreichen Lobby-Arbeit von Chaim Weizmann (1874–1952). Der aus Rußland stammende Chemiker bot den Briten einen Deal an, der zunächst an deren langfristige imperiale Interessen appellierte: Sicherheit für Suez. Ein britisches Heimstatt-Versprechen würde die im Sykes-Picot-Abkommen vorgesehene internationale Verwaltung Palästinas praktisch verunmöglichen und zu einem rein britischen Protektorat über Palästina führen. Dieses, mit einer schutzbedürftigen und deshalb dem Protektor zugetanen jüdischen Heimstatt, garantiere ein Maximum an Sicherheit für den Empire-Weg nach Indien. Es würde sowohl die Türken, als auch die Franzosen vom Kanal fernhalten. 

Eine wachsende Zahl von einflußreichen britischen Politikern konnte sich für diese Idee erwärmen. Wichtiger war aber vermutlich, daß in ihren Augen die Entwicklung des Krieges ab 1917 den kurzfristigen Nutzwert des Zionismus größer werden ließ. Die ökonomisch und politischen einflußreichen assimilierten Juden in Großbritannien und den USA standen schon längst auf britischer Seite. 

Anders sah es mit den in den letzten Jahrzehnten in die USA eingewanderten Juden aus Osteuropa aus, die ebenso wie ihre dort zurückgebliebenen Glaubensbrüder traditionell der zionistischen Bewegung zuneigten. Die meisten von ihnen hatten bis dato die militärischen Erfolge der Mittelmächte gegen das Zarenreich, das die einheimischen Juden mit unzähligen Repressionen überzog, begrüßt. In London überschätzte man deshalb den deutschen Einfluß auf die internationale zionistische Bewegung, deren offizielles Hauptbüro auch während des Krieges in Berlin verblieb. Tatsächlich konnten die Deutschen die Türken nur von Repressionen gegen die in Palästina ansässigen Juden abhalten. Sie dazu zu zwingen, die Immigration von Juden nach Palästina zu unterstützen, konnte Berlin nicht riskieren, wollte es keinen wichtigen Verbündeten verlieren.

Interessengegensätze konnte das Impire nicht bändigen

Nach der russischen Märzrevolution und dem Kriegseintritt der USA 1917 hielt es die Regierung Lloyd George für ratsam, durch die offizielle Unterstützung einer jüdischen Heimstatt in Palästina bei den zugewanderten amerikanischen und den im russischen Herrschaftsbereich verbliebenen Juden einen Stimmungsumschwung herbeizuführen, um deren politische Unterstützung für die Kriegführung der Alliierten zu mobilisieren. Insbesondere sollte so in Rußland der pazifistischen Einstellung der meisten Juden und ihrem Zustrom zum Bolschewismus entgegengewirkt werden, um das Land im Krieg gegen die Mittelmächte zu halten. Warnungen vor einer eventuell bevorstehenden deutschen offiziellen prozionistischen Deklaration kamen hinzu, die aber tatsächlich gegenstandslos waren. 

Ende Oktober 1917, gleichzeitig mit den ersten militärischen Erfolgen der Briten in Palästina, beschloß das britische Kriegskabinett so die offizielle Ausfertigung jenes Schreibens mit dem problematischen Heimstatt-Versprechen, das am 2. November von Außenminister Balfour an Lord Rothschild übergeben wurde.

Die Briten bekamen schon rasch nach der Übernahme der Herrschaft über Palästina zu spüren, in was für ein Wespennest sie sich gesetzt hatten. Langfristig schadeten sie mit ihrem Versprechen an die zionistische Bewegung ihren imperialen Interessen im Nahen Osten enorm. Und nicht nur diesen. Zu spät bemerkte London, daß es Mächte auf den Plan gerufen hatte, die sich nicht mehr mit den bewährten alten Methoden bändigen ließen, auch weil dem alternden Empire die Machtmittel dazu abhanden gekommen waren. 

Zur Ironie der Geschichte gehört noch, daß auch die 1917 erhofften direkten Vorteile für die alliierte Kriegführung ausblieben. Nachdem die Balfour-Deklaration für die Presse freigegeben worden war, veröffentlichte die Times sie am 9. November 1917 auf ihrer Titelseite. Direkt daneben fand sich die Meldung über jenes Ereignis, das sich kurz zuvor in Petrograd zugetragen hatte und das die Deklaration eigentlich hatte vermeiden helfen sollen: den Beginn der Oktoberrevolution in Rußland.