© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

Ungewisse Zukunft
Katalonien: Rückschläge für die Unabhängigkeitsbefürworter
Michael Ludwig

Der Konflikt zwischen Madrid und Barcelona hat eine neue, völlig unerwartete Wendung genommen, die alles Bisherige auf den Kopf stellt – der Präsident der katalanischen Regionalregierung Carles Puigdemont hat sich nach Brüssel abgesetzt. Dort will er offensichtlich politisches Asyl beantragen. Belgiens Staatssekretär für Asyl und Migration Theo Francken hatte es ihm angeboten. Anlaß der Flucht dürfte die Anzeige des spanischen Generalstaatsanwalts José Manuel Maza gewesen sein, der Puigdemont sowie seine gesamte Regierungsmannschaft wegen Rebellion, Aufruhr und Unterschlagung öffentlicher Gelder angeklagt hat. Allein das Delikt der Rebellion kann den spanischen Gesetzen zufolge mit bis zu 30 Jahren Haft geahndet werden.

Madrid scheut sich nicht, mit aller Härte vorzugehen

Für viele Spanier und Katalanen kam der Abgang des von der Madrider Zentralregierung abgesetzten katalanischen Regierungschefs mehr als überraschend. Nach Angaben der Tageszeitung El Pais hatte Puigdemont noch am Montagvormittag ein Foto veröffentlicht, das ihn in seinem Büro am Schreibtisch zeigt. Die Unterschrift: „Bon Dia“ (Guten Tag). Damit sollte wohl suggeriert werden, daß er trotz seiner Absetzung auf seinem Posten ausharrt.

Bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe war noch unbekannt, wie der ehemalige katalanische Regierungschef das Land verlassen hat. Noch am Samstag bummelte er mit seiner Frau durch die Straßen Geronas, ließ sich von der Bevölkerung feiern. In einer aufgezeichneten Sendung des katalanischen Regionalfernsehens erkannte er seine Absetzung nicht an und rief dazu auf, friedlich gegen die Entscheidung der spanischen Zentralregierung zu protestieren, die autonome Provinz Katalonien unter Staatsaufsicht zu stellen. Ebenfalls abgängig scheint sein Stellvertreter Oriol Junqueras zu sein, dem ebenfalls bis zu 30 Jahre Haft drohen. Er wurde die letzten Tage in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen.

Mit der Flucht Puigdemonts nach Belgien dürfte die Unabhängigkeitsbewegung einen schweren Rückschlag erlitten haben, möglicherweise wurde ihr damit sogar das Genick gebrochen. Dennoch besteht die Gefahr, daß der innerspanische Konflikt nun völlig außer Kontrolle gerät. Ungewiß ist, wie die katalanischen Zivilorganisationen ANC und Omnium reagieren werden, die immerhin insgesamt rund 145.000 Mitglieder zählen und deren Anführer Jordi Sánchez und Jordi Cuixart wegen Aufruhrs in einem Madrider Untersuchungsgefängnis einsitzen. Es ist nicht auszuschließen, daß der harte Kern der Unabhängigkeitsbefürworter die Auseinandersetzung auf die Straße trägt und dort die gewaltsame Konfrontation mit der Polizei sucht.

In den vergangenen Tagen hatten sich die Ereignisse buchstäblich überschlagen – am vergangenen Donnerstag hatte das katalanische Parlament beschlossen, sich vom spanischen Mutterland zu lösen und eine unabhängige Republik auszurufen. Einen Tag später ermächtigte der spanische Senat die Zentralregierung in Madrid, den Verfassungsartikel 155 anzuwenden, der sie berechtigt, die revoltierende Provinz zur Räson zu bringen.

Die Mittel, die von der Verfassung für diesen Fall vorgesehen sind, haben es in sich, und die konservative Regierung in der Hauptstadt scheute sich nicht, sie auch anzuwenden. Ministerpräsident Mariano Rajoy setzte nicht nur Puigdemont und seine zwölf Minister ab, sondern auch den Chef der katalanischen Regionalpolizei, der Mossos, Josep Lluis Trapero. Er steht in Madrid bereits vor Gericht, weil er entgegen richterlicher Verfügung seine Beamten nicht dazu angehalten hat, das illegale Unabhängigkeitsreferendum der Katalanen am 1. Oktober zu verhindern. Sein Nachfolger ist die Nummer zwei der Mossos, Ferran López. Nach Ansicht der Tageszeitung El Pais hat Innenminister Juan Ignacio Zoido sich für einen Katalanen entschieden, um weitere Unruhen innerhalb der Regionalpolizei zu vermeiden. Die radikale Lösung, die Mossos ganz abzuschaffen, setzte sich in Madrid nicht durch.

Die Verantwortung für die wohlhabende, aber politisch widerborstige Provinz im Nordosten der Iberischen Halbinsel liegt nun vor allem in den Händen von Rajoys Stellvertreterin Soraya Sáenz de Santamaria und Finanzminister Cristóbal Montoro. Sie sollen dafür Sorge tragen, daß die alltäglichen Regierungsgeschäfte problemlos weiterlaufen und wichtige Entscheidungen nicht im Sinne der „independentistas“ getroffen werden. Die übrigen Madrider Ministerien sind gegenüber den katalanischen weisungsbefugt. Um die zu erwartenden Wellen der Empörung zu glätten, heißt es in Madrider Regierungskreisen, müsse man sehr vorsichtig vorgehen. Allerdings machten sie auch klar, daß unbotmäßige Beamte ihre Arbeitsstelle sehr schnell verlieren, wenn sie nicht im Sinne der Zentralregierung handeln.

Zu den wichtigen Entscheidungen Madrids gehört, daß am 21. Dezember dieses Jahres in Katalonien Neuwahlen stattfinden sollen. Bis dahin bleibt nicht viel Zeit, und ob sie zur Lösung des Problems wirklich beitragen, ist ungewiß. Die Parteien, die für die Unabhängigkeit kämpfen, müssen nun kurzfristig entscheiden, ob sie an der Wahl teilnehmen werden oder nicht. Tun sie das, geraten sie in Verdacht, sich dem Diktat Spaniens zu beugen. Tun sie es nicht, werden sie im Parlament nicht mehr vertreten sein. Eine neue katalanische Regierung, die Madrid nicht von vornherein als potentiellen Feind wahrnimmt, könnte manches rückgängig machen. Hinzu kommt, daß eine katalanische Volksvertretung ohne „independentistas“ in der Gesellschaft, die in dieser Frage tief gespalten ist, kaum demokratische Legitimität besitzen würde. Die Radikalen würden sie wohl verachten.