© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/17 / 03. November 2017

„Über die Arbeitsmarktnähe ist bisher nur wenig bekannt“
Hartz IV: Die Zahl der Berechtigten aus den acht zugangsstärksten Asylherkunftsländern hat sich 2016 mehr als verdoppelt / Neuer Höchststand bei Kindern
Christian Schreiber

Die Zahl der Hartz-IV-Empfäger aus den zugangsstärksten Herkunftsländern hat sich in den vergangenen Jahren beinahe verdreifacht. Wie dramatisch die Entwicklung ist, zeigen Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). So waren im Januar 2016 noch 320.000 Leistungsberechtigte aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien gemeldet. Zehn Monate später seien es bereits 650.000 Personen gewesen. Im Mai dieses Jahres waren es dann schließlich 870.000 Menschen. Dies sind etwa 14 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger. Die Mehrheit der Gruppe stellen laut IAB Syrer und Iraker. Dem Institut zufolge sind die Hartz-IV-Empfänger zudem sehr häufig Männer, ihr Durchschnittsalter beträgt 30 Jahre.

Geflüchete unterscheiden sich von anderen Zugängen

Der verstärkte Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland wirke sich stark auf die Struktur der Grundsicherungsempfänger aus. Eine Betrachtung der Neuzugänge in den „SGB-II-Leistungsbezug“ zeige, daß sich die Geflüchteten deutlich von anderen Zugängen unterscheiden: „So befinden sich unter den Geflüchteten häufiger männliche und jüngere Personen. Des weiteren steht im Gegenteil zu den anderen Zugängen einer großen Gruppe von niedrig Gebildeten auch ein großer Anteil an Personen mit hohem schulischen Bildungsabschluß gegenüber.“ Sprachliche Defizite und fehlende berufliche Bildungsabschlüsse seien die zentralen Arbeitsmarkthemmnisse bei den Einwanderern mit Arbeitslosengeld-II-Bezug. Zudem sei eine höhere Kumulation von Hemmnissen als bei den anderen Zugängen zu beobachten.

Drei Viertel der Geflüchteten haben unzureichende Deutschkenntnisse. Fast zwei Dritteln fehlt ein beruflicher Bildungsabschluß. Beim Bildungsniveau sind die Unterschiede enorm. So hat zwar mehr als die Hälfte keinen Schulabschluß, auf der anderen Seite ist aber mehr als ein Viertel relativ hoch qualifiziert und verfügt sogar über eine dem deutschen Niveau entsprechende (Fach-)-Hochschulreife. Daß es offenbar nicht gelingt, auch die besser Qualifizierten im Arbeitsmarkt unterzubringen, löst bei den Forschern Bedenken aus.

Dafür seien die Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien im Vergleich zu anderen Hartz-IV-Neuzugängen deutlich gesünder und jünger und seltener alleinerziehend. „Der große Anteil mit hoher Schulbildung und einem eher guten Gesundheitszustand in der Gruppe der Geflüchteten lassen auch auf Potentiale für eine zukünftig erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt schließen. Zumal bei den Geflüchteten, und insbesondere bei den Männern, eine hohe Motivation erkennbar ist, eine Arbeit zu suchen – selbst wenn dies von den Jobcentern noch nicht gefordert wird“, schreiben die IAB-Forscher. Sie haben neben den Fragen nach Alter und Schulbildung auch andere Faktoren analysiert, die für eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt wichtig seien. So wurden Arbeitsuchende auch nach ihrer Bereitschaft gefragt, für eine neue Beschäftigung verschiedene Zugeständnisse zu machen. Bezüglich langer Arbeitswege ist die Akzeptanz bei Geflüchteten mit 71 Prozent deutlich stärker ausgeprägt als in der Vergleichsgruppe, der Personen, die entweder Deutsche sind oder bereits länger hier leben.

Enormer Anstieg der SGB-Leistungen bei Kindern

Doch es gibt nicht nur einen Anstieg der Sozialhilfeleistungen bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern. Bis zum Abschluß ihres Asylverfahrens haben Flüchtlinge in der Regel keinen Anspruch auf Hartz IV. Falls sie aber ein Bleiberecht erhalten und nicht gleich existenzsichernde Arbeit haben, werden die Jobcenter zuständig. Und mit entsprechender Verzögerung sei es dann zu einer starken Zunahme der Zahl ausländischer Kinder im Hartz-IV-System gekommen, erklärt Arbeitsmarktforscher Eric Seils vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Interessant ist an dieser Studie folgendes: Der Forscher erklärt, der gemessene Anstieg der Gesamtzahl der Hartz-IV-Empfänger zeige eine steigende Verarmung der Bevölkerung an. „Für die Flüchtlinge ist es im Unterschied zu vielen Deutschen von Vorteil, in das Hartz-System zu wechseln, weil das mit einer Leistungsverbesserung verbunden ist“, sagt Seils gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Insgesamt leben nach der WSI-Studie rund 1,95 Millionen Kinder und Jugendliche in Familien, die Hartz IV beziehen. Dies entspräche einem Plus von 110.000 oder 0,8 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. „Der Anstieg“, so sagen die Forscher es ganz deutlich, „ist vor allem eine Folge der Zuwanderung von Flüchtlingen seit 2012.“ Eine bessere Arbeitsmarktintegration der Eltern sowie Bildungsinvestitionen seien unerläßlich, um zu verhindern, „daß Generationen von Transferleistungsempfängern“ entstünden.

„Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten im SGB II“, IAB Kurzbericht 23/17:  doku.iab.de/

WSI Policy Brief 15, 10/17: boeckler.de/