© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Der Tanz um das Goldene Kalb
Wirtschaft: Der Ruf nach verstärkter Digitalisierung erschallt aus vielen Ecken, ebenso die Sorge um den Arbeitsplatz
Christian Schreiber

Für viele Menschen ist es derzeit noch ein wenig greifbares Schlagwort, aber in zahlreichen Verlautbarungen aus Kreisen von Politik und Wirtschaft kommt der Begriff Digitalisierung immer öfter vor. Die zunehmende Bedeutung und die damit einhergehenden Umwälzungen in der Gesellschaft treiben nun auch die Kanzlerin um. „Wir wollen nicht im Technikmuseum enden mit Deutschland“, sagte kürzlich Angela Merkel der Deutschen Presse-Agentur.  

Doch die digitale Revolution treibt die Konzerne vor sich her und stellt den Sozialstaat hierzulande vor ganz neue Herausforderungen. Viele Menschen treibt die Furcht um, sie könnten überflüssig werden und ihren Job verlieren.  „Wir dürfen die digitale Veränderung nicht einfach nur als technologischen Fortschritt verstehen“, sagt Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), gegenüber der Welt: „Sondern wir reden hier über eine radikale Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft. Das stellt uns vor neue Herausforderungen, die wir noch gar nicht richtig verstehen.“

Zeitaufwendige Prozesse sollen eingespart werden 

Schon heute sind über 20 Milliarden Geräte und Maschinen über das Internet vernetzt – bis 2030 werden es rund eine halbe Billion sein, teilt das Bundeswirtschaftsministerium mit. Digitalisierung und Vernetzung könne ein Motor für Wachstum und Wohlstand sein: „Die digitale Wirtschaft in Deutschland ist nicht nur ein bedeutender Wirtschaftssektor und wichtiger Technologiebereich, sondern auch Treiber der Digitalisierung von Unternehmen, Arbeitswelt und Gesellschaft.“ Gerade für kleine und mittlere Unternehmen sind digitale Kompetenzen ein entscheidenderWettbewerbsfaktor – bei ihnen bestehe ein besonderer Förder- und Beratungsbedarf. Auch in der Industrie könne Digitalisierung durch intelligente Produktionsverfahren höhere Produktivität und Effizienz erzielen. Das entscheidende Stichwort heiße Industrie 4.0.

Die Diskussion hat längst auch Traditionsunternehmen erreicht. Logistikdienstleister Kühne + Nagel resümiert: „Die Zeichen stehen auf Veränderung. Angebote einholen, Aufträge erteilen und Sendungen verfolgen, sind zeitaufwendige Prozesse.“ Mit „KN FreightNet“ biete Kühne + Nagel seinen Kunden eine Online-Lösung, mit der sie ihre Luftfrachtaufträge schneller und einfacher plazieren können „als je zuvor“. KN FreightNet, so das Unternehmen, nutze neueste „Web-Technologien“, um dem Kunden Zeit zu sparen. Es zeige ihm bereits bei der Anfrage von Transitzeiten und Kosten in Sekundenschnelle alle notwendigen Informationen. Ähnliches gelte für die Sparten Seefracht und Landverkehr, so die Logistiker.

Auch die Vergölst GmbH, eine Handelskette für Reifen- und Autoservice, sieht sich gut aufgestellt. „Dank der Digitalisierung des Reifenmanagements konnte Vergölst die internen und externen Prozesse rund um die mobilen Pannen- und Reifeneinsätze deutlich verbessern“, erklärt Vergölst-Mitarbeiter Carsten Meißner. Mittlerweile verfüge die gesamte Mobilflotte über FleetFox-Tablets, die eine effizientere Planung und Abwicklung der mobilen Einsätze ermöglichten. Anstatt die Service-Protokolle bei Wind und Wetter handschriftlich auszufüllen, geben die Fahrer der rollenden High-Tech-Werkstätten, die Werte mittels App in die entsprechenden Felder in der Anwendungsmaske ein. „Durch die Umstellung auf FleetFox konnten wir die Fehlerquote enorm reduzieren, es werden insgesamt viel weniger Rechnungen reklamiert“, betont Meißner.

„Digitalisierung heißt nicht nur: weniger Papier“, erklärte dagegen Marcus A. Wassenberg, stellvertretender Vorstandschef von Rolls-Royce Power Systems, während eines Votrags an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen: Hinter diesem Begriff stecke eine andere Art zu arbeiten – und auch neue Geschäftsmodelle. In der Chefetage bei Rolls-Royce Power Systems sei man sich im klaren, daß die Umwälzungsprozesse auch Sorgen und Ängste beförderten: „Viele Mitarbeiter sagen: Zähle ich jetzt überhaupt nichts mehr“, berichtet Wassenberg. Weil „eine falsch gemachte Digitalisierung“ zur Verunsicherung und zum Gefühl des Abgehängtseins beitrage, versuche die Führungsmannschaft, Rolls-Royce behutsam in die digitalisierte Zukunft zu führen.

Auch in Deutschland ansässige US-Firmen schalten sich in die Debatte ein und mahnen Fortschritte an. „Ein erfolgreicher digitaler Wandel gehört zu den wichtigsten Faktoren für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit“, erklärte der Präsident der US-Handelskammer in Deutschland, Bernhard Mattes. „Es gilt jetzt, die digitale Infrastruktur auszubauen und einen modernen Rechtsrahmen für Cybersicherheit und Datenaustausch zu schaffen.“

Die Chemiebranche hat bereits angekündigt, massiv zu reagieren. In den nächsten drei bis fünf Jahren plane sie nach Angaben des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), mehr als eine Milliarde Euro in neue digitale Geschäftsmodelle zu investieren. „Indem wir künftig digitale Massendaten nutzen, kann unsere Branche ihre Rolle in den Wertschöpfungsketten erweitern und neue Geschäftsmodelle entwickeln“, erklärte VCI-Präsident Kurt Bock gegenüber der DPA: Ein Meilenstein der Digitalisierung könnte in den sogenannten Chatbots liegen.

Milliarden für den Ausbau der Glasfasernetze 

Die Technologie-Branche hat große Erwartungen an diese Software, die automatisch mit Menschen kommuniziert. Doch laut einer YouGov-Umfrage, die im Frühjahr 2017 veröffentlicht wurde, können 59 Prozent der Menschen in Deutschland mit dem Begriff nichts anfangen. Immerhin 20 Prozent der Befragten gaben an, zu wissen, was Chatbots sind, 17 Prozent haben das Wort schon einmal gehört, können sich darunter aber nichts vorstellen. „Das wird sich dramatisch ändern“, sagt Laurent Burdin. Der ehemalige Geschäftsführer der Hamburger Digitalagentur SinnerSchrader gilt als einer der „Digitalisierungsgurus“ in Deutschland. 

Burdin geht davon aus, daß sich die Wirtschaft und damit die Lebensverhältnisse der Menschen innerhalb der kommenden 30 Jahre rasant verändern werden. „Roboter schrauben nicht nur in der Fabrikhalle, mähen den Rasen oder saugen das Wohnzimmer. Es gibt auch Roboter oder kurz Bots, die mit uns Menschen kommunizieren“, erklärt die Computer Bild. „Chatbots rückten erst 2016 ins Visier der Branche, insbesondere als Facebook sie in der Messenger-App einführte. Sie nehmen heute mit der Einführung von virtuellen Assistenten wie Alexa von Amazon massiv an Bedeutung zu. Das Prinzip der automatisierten Konversation in Alexa oder in einem Chatbot ist genau das gleiche“, sagt Burdin. Er ist überzeugt: Programme wie Alexa, Siri und Co. werden unseren Alltag steuern: „Wir sagen ihnen, was wir wollen, und dadurch werden Chatbots und Co. immer cleverer.“ 

Alles, was digitalisiert werden kann, werde digitalisiert, schreibt das Portal Bitcom. Diese Aussage komme nicht nur von Unternehmen, die Lösungen für die digitale Transformation anbieten, sondern aus allen Bereichen der Wirtschaft und des privaten Lebens. „Kommunikationskanäle haben sich vom klassischen Brief hin zu komplett digitalen Kanälen entwickelt, die teilweise komplett automatisiert werden. Die automatisierte Kommunikation findet künftig noch stärker in den Chatbots an.“ Einem Chatbot könne der Kunde einfach sagen, was er wolle. Mittels Sprache lasse sich so jedes Anliegen schnell und direkt adressieren. „Es ist durchaus denkbar, daß Kunden schon bald mit Hilfe von Messenger Bots mit Unternehmen kommunizieren können, ohne die Einschränkungen von festen Bürozeiten oder Call-Center-Warteschleifen in Kauf nehmen zu müssen.“

Nun ist ein regelrechter Tanz um das Goldene Kalb entstanden. Die Digitalisierung setze bekannte marktwirtschaftliche Mechanismen außer Kraft, urteilt beispielsweise die Studie „Digitalökonomie Strategie 2030“, die das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut zusammen mit der Berenberg Bank erstellte. So schaffe die Digitalisierung beispielsweise Märkte, auf denen einzelne erfolgreiche Unternehmen praktisch den gesamten Markt beherrschten, so wie beispielsweise Google bei der Internetsuche hierzulande. Das schaffe einen enormen Konkurrenzdruck, sagte Jörn Quitzau, Volkswirt bei der Berenberg Bank gegenüber der Welt. 

„Die deutsche Wirtschaft ist für den digitalen Wandel grundsätzlich gut aufgestellt“, schreiben die Autoren der Studie. Schließlich zeichne es die deutsche Industrie aus, daß sie in der Lage ist, sich schnell an veränderte Strukturen anzupassen.

Doch der Digitalisierungsdruck hat längst alteingesessene Branchen erfaßt. „Als sich vor 125 Jahren deutsche Maschinenbauer in einem Verband zusammenschlossen, ging es um Liefer- und Zahlungsbedingungen sowie um Preise für Bergwerks- und Hüttenmaschinen“, schreibt die Deutsche Presse-Agentur. Heute stünden unter anderem Freihandel und Digitalisierung im Fokus. „Der bisherige Ausbau des Glasfasernetzes auf dem Land, wo viele Maschinenbauer ihren Sitz haben, reicht nicht“, kritisiert Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Branchenverbandes VDMA. „In der neuen Legislaturperiode sollten insgesamt 40 Milliarden Euro in den Ausbau investiert werden.“ Auch die Elektroindustrie hatte jüngst ein höheres Tempo gefordert. Die geplanten Investitionen von 100 Milliarden Euro bis zum Jahr 2025 seien richtig, es müsse aber schneller gehen als bisher geplant, mahnte der Branchenverband ZVEI.

Deutschland, so die renommierte Unternehmensberatung McKinsey, schöpfe den wirtschaftlichen Nutzen der Digitalisierung bei weitem noch nicht aus. Aktuell nutze das Land nur zehn Prozent seines digitalen Potentials – und damit weitaus weniger als der EU-Durchschnitt (12 Prozent) oder Länder wie Großbritannien (17 Prozent) und die weltweit führenden USA (18 Prozent). „Wenn Deutschland sein digitales Potential optimal nutzen würde, könnte das Bruttoinlandsprodukt bis 2025 um einen Prozentpunkt jährlich zusätzlich wachsen – das sind umgerechnet insgesamt rund 500 Milliarden Euro“, heißt es in einer McKinsey-Studie.

„Digitalisierungs-Guru“ Burdin fordert daher auch, daß „Chancen und Potentiale von digitalen Prozessen“ viel stärker angegangen werden müßten. Auch die Bevölkerung müsse mutiger werden. Aktuelle Umfragen scheinen ihm recht zu geben. Demnach sind 60 Prozent der Deutschen der Meinung, daß durch die fortschreitende Digitalisierung bestehende Arbeitsplätze abgebaut werden.





Online-Lebensmittelhandel steigt an

Wie bereits große Teile des Einzelhandels wandelt sich auch der Lebensmitteleinzelhandel und wird digitaler. Der „Marktwächter Digitale Welt“, ein Onlineauftritt der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und aller 16 Verbraucherzentralen, ermittelte 2016 179 Händler, die frische Lebensmittel überregional zum Versand anbieten. Für Aufsehen sorgte Anfang Mai 2017 der amerikanische Online-Versandhändler Amazon mit der Einführung seines Dienstes  „Amazon Fresh“.  Für den hochkonzentrierten Lebensmittelmarkt in Deutschland könne der Eintritt Vorteile haben, so Linn Selle, vzbv-Handelsexpertin. Die vier großen Lebensmitteleinzelhändler hätten derzeit einen Marktanteil von 85 Prozent. Eine Stärkung weiterer Onlinehändler könne diesen Markt aufmischen. Für Verbraucher könnte sich dadurch zudem das Angebot verbessern. Branchenführer ist laut der Studie „E-Commerce-Markt Deutschland 2017“ Rewe.de mit einem Umsatz von 108 Millionen Euro. Gemessen am Umsatz spielt der Lebensmittel-Online-Handel mit einem Anteil um die ein Prozent eine bis dato „relativ geringe Rolle“ (vzbv), verzeichnet aber laut dem Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh) im Vergleich mit den anderen Sparten (Bekleidung, Elektroartikel usw.) die höchsten Zuwachsraten. Die zunehmende Akzeptanz für das Warensegment Lebensmittel bescherte ihm zwischen 2015 (Umsatz: 736 Millionen Euro) und 2016 (932 Millionen) ein Umsatzplus von 26,7 Prozent. Tendenz steigend.