© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Alte Berliner auf Visite im Neuen Museum
Das Erbe der Völkerwanderung: Zur Ausstellung „Die Krone von Kertsch – Schätze aus Europas Frühzeit“
Martina Meckelein

Schimmerndes Gold – wohin das Auge auch blickt. Hinter Glasscheiben glitzern prächtige Gürtelschnallen, lange Goldketten mit schweren milchfarbenen Chalzedonperlen, filigrane Ohrringe, ziselierte Armreifen. Und in der Mitte des Raumes steht auf einem sich drehenden Podest ein Sessel. Demjenigen zu Ehren, der gern abends, wenn das Museum geschlossen hatte, sich auf einen Stuhl setzte und seine Schätze, die er dem Museum geschenkt oder geliehen hatte, anschaute – Johannes Freiherr von Diergardt.

„Die Krone von Kertsch – Schätze aus Europas Frühzeit“ lautet der Titel einer Ausstellung des Neuen Museums in Berlin, die in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und sehenswert ist. Denn sie zeigt nicht nur beeindruckende Exponate aus vier Jahrtausenden, sondern erzählt gleich mehrere Geschichten: natürlich die der Kulturen vom Westen Europas bis zum Schwarzen Meer, aber auch die über die Entwicklung der Archäologie und die über einen Gönner, der unbekannt bleiben wollte, eben den Freiherrn von Diergardt.

Einträge über einen „ungenannten Gönner“

Für zwei Jahre sind 600 Ausstellungsstücke des Kölner Römisch-Germanischen Museums im Neuen Museum der Hauptstadt zu bestaunen.

Die Ausstellungsstücke sind im Grunde alte Berliner. Sie waren schon einmal hier. Denn bis 1934 wurde die Sammlung von Johannes Freiherr von Diergardt (1859–1934), Sohn eines Seiden- und Samthändlers aus dem Rheinland, im Museum für Vor- und Frühgeschichte gezeigt. Ein großer Teil der wertvollen Stücke waren Leihgaben des Millionärs, manche auch Schenkungen. Diergardt sammelte seit seiner Jugend. Erst Münzen, dann, nach dem Tod seiner Mutter, als er 1885 einen Familienfriedhof auf dem Gelände seines Schlosses Bornheim bei Bonn einrichten ließ und bei den Ausgrabungen ein frühmittelalterliches Gräberfeld freigelegt wurde, interessierte ihn die Archäologie.

Er selbst suchte die Stücke nicht aus, die er erwarb, sondern setzte sich mit Museumsexperten ins Benehmen. Aufgrund ihrer Ratschläge kaufte er. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) schrieb 2007 in einer Dokumentation über die Ausstellung „Griechen – Skythen – Amazonen“: „Diese wurden Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts gezielt erworben, um die Kenntnisse über diese Gebiete am ‘Rande’ der antiken Welt zu erweitern.“ Und weiter schreibt die SPK, daß am „14. Juni 1907 die über 1.000 Objekte umfassende Sammlung des französischen Bankiers Alessandre Merle de Massonneau erworben“ wurde. Der war Verwalter der Weingüter des Zaren und lebte lange Jahre auf der Krim. Er kaufte von „Ausgräbern und Händlern antike und völkerwanderungszeitliche sowie islamische Fundstücke auf“ und verkaufte wiederum seine gesamte Kollektion an die großen Museen der Welt. So zum Beispiel an die Eremitage und das Metropolitan Museum New York, vor allem aber nach Berlin.

Auch Diergardt kaufte von dem Verwalter an. Viele, fast alle Stücke, sind Grabfunde. Heute ist es zu bedauern, daß es keine genauen Aufzeichnungen über die Fundorte gibt. Es fehlt die komplette systematische Aufarbeitung und Dokumentation der einzelnen Ausgrabungen, so wie es in der modernen archäologischen Forschung Grundlage der wissenschaftlichen Arbeit ist.

Diergardt stellte einen Teil seiner Sammlung, andere befanden sich in Köln und auf seinem Schloß, dem Berliner Museum zur Verfügung, dem er sich besonders verbunden fühlte, erstmals 1905. Er selbst wollte nicht, daß sein Name in den Unterlagen des Museums auftauchte, und so findet man noch heute Einträge über einen „ungenannten Gönner“. Diergardt war so scheu, daß er seine Sammlung lieber allein ohne Publikum im Museum betrachtete. Als alter, schon kranker Mann, saß er Stunden in dem Stuhl, dem ihm Mitarbeiter des Museums hinstellten. 

Das Diadem wird den Hunnen zugeordnet

Nach seinem Tod verkaufte seine Familie die Berliner Sammlung, jedenfalls den Teil, der verliehen war, an das Kölner Wallraf-Richartz-Museum. Die außergewöhnlich prächtige zeit-, raum- und kulturumspannende Diergardt-Sammlung – sie galt Anfang des 20. Jahrhunderts als die weltweit wichtigste über die Völkerwanderung – wurde zum Nukleus des späteren Römisch-Germanischen Museums. Jetzt wird dort umgebaut, und so konnte Berlin sich die schönsten der 6.600 Stücke auswählen und am alten Standort der Sammlung zeigen. „Alle Spitzenstücke sind da“, sagt Matthias Wemhoff, der Direktor des Neuen Museums.

Das älteste Ausstellungsstück ist ein 4.000 Jahre alter Axtrohling aus Kupfer. Es stammt aus Weißkirchen (Holic). Damals gehörte der Ort zur k.u.k-Monarchie, heute liegt es in der Slowakei. Ein Ausstellungsstück kennt wohl jeder noch aus Schulbuchabbildungen: die Krone von Kertsch. Sie ist weitaus jünger, stammt aus einem Grabfund aus der Völkerwanderungszeit und wird den Hunnen zugeordnet. Ein Reif aus Gold, in den Granatsteine angeordnet sind. „Dabei ist der Begriff Krone falsch. Sie ist gar keine Krone, sondern ein Diadem“, erklärt der Kurator der Ausstellung, der frühgeschichtliche Archäologe Raimund Masanz. „Es wurde als Stirnschmuck getragen und hatte vermutlich eine Textil- oder Lederunterlage.“ Verschiedenfarbige Schmucksteine spielten in der Kleidung des frühen Mittelalters eine große Rolle, heißt es im Begleittext des Museums. Besonders beliebt scheint der leuchtend rote Halbedelstein Granat gewesen zu sein. Er wurde über Südasien bis nach Europa gehandelt.

„Nachträglich betrachtet ist es ein Glücksfall, daß die Stücke damals nach Köln verkauft worden sind“, sagt Masanz zur JUNGEN FREIHEIT. „Wären sie hier geblieben, wären sie jetzt in Rußland in einem Depot und würden nicht gezeigt.“ Denn die Stücke der Diergardt-Sammlung, die 1934 in Berlin verblieben sind, müssen fast alle als Kriegsverluste abgeschrieben werden.

Die Präsentation „Die Krone von Kertsch“ ist bis zum 29. September 2019 im Berliner Neuen Museum, Bodestraße, täglich von 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 030 / 266 42 42 42

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