© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/17 / 10. November 2017

Für die Wallfahrer im roten Jerusalem
Der Sowjetkommunismus in Rußland kämpfte gegen die Religion und kopierte gleichsam die Bildsprache und Rituale für die Gläubigen ihrer Ideologie
Karlheinz Weißmann

Wir waren alle Gläubige.“ Der Satz stammt von dem Schriftsteller Lew Kopelew, einem der wichtigsten sowjetischen Dissidenten. Er formulierte ihn mit Blick auf seine Jugend als begeisterter Kommunist. 1912 geboren, hatte Kopelew bis zum Erwachsenenalter nie eine andere als die totalitäre Staatsform kennengelernt. Die hielt sich aber nicht nur mittels Terror und Propaganda. Sie konnte sich auch auf jene „Gläubigkeit“ stützen, von der Kopelew sprach. Was er damit meinte, war keineswegs eine oberflächliche Analogie zwischen politischer und traditioneller Religion. Kopelew ging es um die Tatsache, daß im 20. Jahrhundert ein neuartiger Erlösungsglaube entstand, der Millionen von Menschen erfaßte.

Dieser Einschätzung widerspricht auf den ersten Blick die Tatsache, daß sich das Sowjetsystem auf eine radikale atheistische Doktrin berief. Die Feststellung von Karl Marx, daß Religion „Opium des Volkes“ sei, galt als unverrückbare Wahrheit. Wenngleich man den Verweis auf die Selbsttäuschungsbereitschaft der verzweifelten Massen ergänzte um Lenins Formel, daß Religion „Opium für das Volk sei“, also Ergebnis eines Priesterbetrugs, der den Herrschenden half, die Beherrschten durch Drohung mit dem Zorn der Götter oder Vertröstung auf das Jenseits unter Kontrolle zu halten. Nach eigenem Verständnis war es das Ziel bolschewistischer Politik, beide Irrtümer zu beseitigen und die Religion auszurotten, um so dem Fortschritt den Weg zu bahnen, an dessen Ende der neue Mensch ohne allen Glauben leben würde.

Dementsprechend ging Lenin nach der Oktoberrevolution von 1917 mit aller Härte gegen die Religionsgemeinschaften vor: die orthodoxe Staatskirche und die übrigen christlichen Bekenntnisse, aber auch muslimische, jüdische oder buddhistische Gemeinden. Die Trennung von Staat und Religion war nur ein formaler Akt. Kathedralen und Kapellen wurden zerstört wie Moscheen, Synagogen oder Pagoden. Man tötete die Geistlichen – es starben auf sowjetischem Gebiet mehr als 1.200 orthodoxe Priester und 200 Geistliche der vorwiegend deutschen Lutheraner –, schändete die Heiligengräber, zerschlug die Reliquien, vernichtete oder verhökerte die Kunstschätze ins Ausland, stürzte die religiösen wie die Denkmäler der Zaren, schmolz die Glocken ein und zwang die Bauern, die Ikonen aus ihren Hütten zu holen und öffentlich zu verbrennen.

Die Ausrottung der Religion ließ ein Vakuum entstehen

Die Partei unterstützte die „Bewegung der militanten Gottlosen“ auf jede denkbare Weise, und über das Land ergoß sich eine Flut atheistischer Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Filme. Deren Hauptziel war neben der Zerstörung jeder Glaubensform die Installation einer „kommunistischen Sittlichkeit“, die im erklärten Gegensatz zur christlichen stand. Alle Moral wurde dem materialistischen Grundsatz gemäß aus der Klassenlage abgeleitet, was bedeutete, daß weder Leben noch Eigentum des Einzelnen Schutz genossen, daß es keine individuelle Freiheit gab. Auch die bisher gültigen Normen der Sexualität waren aufgehoben. Da der Mensch nichts als ein „höheres Tier“ sei, müsse man die alten Regeln als unnatürlich betrachten; Inzest, Bigamie, Ehebruch und Abtreibung wurden straffrei erklärt.

Allerdings erkannte Lenin früh, daß man nicht beim Kampf gegen die Religion stehen bleiben durfte. Der ließ ein Vakuum entstehen, das zu füllen war. Bereits im Februar 1918 formulierte er sein Programm für eine „monumentale Propaganda“. Lenin befahl, daß an den öffentlichen Straßen und Plätzen große Transparente mit revolutionären Merksprüchen aufzustellen seien, außerdem gehe es darum, Büsten und Statuen zu errichten, um die Bevölkerung mit den Gesichtszügen der neuen Helden vertraut zu machen. 

Tatsächlich fällt schon bei oberflächlicher Betrachtung der frühen Sowjetpropaganda auf, wie sehr sich deren Bildsprache an der russischen Tradition orientierte: der Proletarier als messianische Gestalt, die Massen mit gläubig erhobenem Blick, die Revolution als apokalyptischer Reiter, Lenin, umgeben von einem Nimbus, Trotzki zu Pferd, den Drachen der Reaktion niederstoßend. Trotzki, in der Zeit nach der Oktoberrevolution der zweite Mann der sowjetischen Führung, forderte ausdrücklich die „Schaffung neuer Lebensformen und einer neuen Lebenstheatralik“, um die christliche Prägung der Menschen durch eine bolschewistische zu ersetzen. Zu dem Zweck führte man eine weltliche „Namensgebung“ ein und die „Jugendweihe“, deshalb gab es die „Rote Hochzeit“ und im Jahreslauf die „Rote Maifeier“, die Erinnerung an die militärischen Erfolge der Roten Armee oder das Jubiläum des „Roten Oktober“.

Auf die Anfänge der bolschewistischen Herrschaft geht auch der Personenkult um Lenin zurück. Sein idealisiertes oder stilisiertes, überall verbreitetes Kopfbild war die neue Ikone, und wenn der Dichter Maxim Gorki äußerte, daß Lenin „in einer anderen Epoche (…) als Heiliger gegolten hätte“, stand er damit nicht allein. Die einfache Bevölkerung war durchaus bereit, ihm übermenschliche Eigenschaften zuzuschreiben. 

In Sibirien lief die Geschichte um, daß Lenin in der Mitte des Landes auf einer hohen Säule stehe und von dort aus alles überblicke und jeden Missetäter sofort zur Rechenschaft ziehen könne. Als die Sowjetunion von feindlichen Staaten bedroht wurde, habe Gott den Himmel erglühen lassen und Lenin so unverwundbar gemacht. Die Tendenz zur Idolisierung griff noch stärker nach dem Tod Lenins im Jahr 1924 um sich. Eine neue Volksfrömmigkeit brachte sogar Berichte seiner Auferstehung hervor oder Erzählungen über den scheintoten Staatsführer, der ab und zu ins Leben zurückkehre, um nach dem Rechten zu sehen. 

Wenn die Parteiführung an Wissenschaftler und Spezialisten den Auftrag erteilte, Lenins Leichnam so zu präparieren, daß er wie lebendig wirkte, um ihn ausstellen zu können, mochte auch der Gedanke mitgespielt haben, daß es im alten Rußland die populäre Idee vom unverweslichen Leib der Heiligen gab. Der Begriff „Mumifizierung“ war im Zusammenhang der Konservierung von Lenins Überresten jedenfalls irreführend, denn es ging darum, ihn der Öffentlichkeit so zu zeigen, als ob er gar nicht tot sei. Die Menschen sollten die Vorstellung gewinnen, daß der „ewige Lenin“ nicht nur im übertragenen, sondern in einem ganz handfesten Sinn unter ihnen weile.

Die Wirkung des neuen Kultes blieb keineswegs auf die analphabetischen Massen Rußlands beschränkt. Das Beispiel Kopelews spricht für sich, oder das der deutschen Kommunistin Clara Zetkin, die äußerte, man solle beim Überschreiten der sowjetischen Grenze die Schuhe ausziehen, da man das Land Lenins und damit „heiligen Boden“ betrete. 

Dieses Empfinden, daß in Rußland nicht nur eine neue Phase der Geschichte begonnen, sondern eine Art Ausgießung des Geistes stattgefunden habe, teilten viele Zeitgenossen, selbst wenn sie keine Kommunisten waren und sich lediglich durch das große soziale Experiment in Bann schlagen ließen. Der pazifistische Autor Armin Wegener beschrieb einen Aufmarsch zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution mit den Worten: „Nichts kann sich mit dem gewaltigen Eindruck dieses Festes der roten Pilger messen, die in unabsehbarer Prozession vorüberziehen, auf der Wallfahrt nach dem roten Jerusalem, dort, wo unter den Mauern des Kreml, zehn Stufen unter der Erde, in seinem gläsernen Sarge Lenin ruht, der tote Christus der Revolution.“

Stalin wußte genau um die Macht der Liturgie

Zu dem Zeitpunkt hatte Stalin längst Vorbereitungen getroffen, um das provisorische Mausoleum durch einen Monumentalbau aus Marmor und Porphyr zu ersetzen. Der diente ihm gleichzeitig als Tribüne, von der aus er die großen Aufmärsche der Partei, ihrer Gliederungen und der Streitkräfte abnahm. Das festigte seine Legitimität durch die sinnfällige Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Führer der Revolution. Als ehemaliger Schüler eines Priesterseminars wußte Stalin besser als jeder andere um die Macht der Liturgie und baute die politische Religion systematisch aus. 

Dahinter stand ein ganz rationales Kalkül: Der Stalinismus beruhte auf einer Ideologie, die so wirklichkeitsfern und gleichzeitig so undurchschaubar und absurd war, daß sie nur blinder Glaube und absoluter Gehorsam aufrechterhalten konnte, während jeder Zweifel und jede tatsächliche oder vermeintliche Ketzerei mit größter Härte verfolgt wurde.

Die Bizarrerie der „roten Religion“ hat aber trotzdem Kritik geweckt. Unter den alten Bolschewiki gab es viele Einwände im Namen der „wissenschaftlichen“ Grundsätze des Marxismus. Aber schärfer sahen doch die erklärten Gegner des Sowjetsystems. Der Exilschriftsteller Dimitri Mereschkowski veröffentlichte 1921 einen Aufsatz, der sich mit den Plänen der Kommunistischen Internationale zur Errichtung eines gigantischen Turmgebäudes befaßte, das den Sowjetstaat verherrlichen und viel höher als der Eiffelturm sein sollte: „Dostojewski verglich die allweltliche Vereinigung der Menschheit in der Internationale“, schrieb Mereschkowski, „mit dem babylonischen Turmbau. Wie alle Prophezeiungen Dostojewskis geht auch diese in Erfüllung. Der (…) Turmbau ist die Fortsetzung des babylonischen, die Dritte Internationale die Fortsetzung der vorsintflutlichen Internationale. Der gleiche fünfzackige Stern leuchtet über beiden.“ Für Mereschkowski war Moskau nicht das neue Jerusalem, sondern das endzeitliche Babel.