© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Die Staatsräson erfüllen
Kampf gegen Rechts: Warum die Politik linksradikale Gewalt nicht nur duldet, sondern auch protegiert
Thorsten Hinz

Nur eine Woche nach dem Hamburger G20-Gipfel war die Frage schon wieder verstummt, wie das Gewaltpotential, das sich in der Hansestadt entladen und die Rechtsordnung mehrere Tage außer Kraft gesetzt hatte, dauerhaft neutralisiert werden könne. Stattdessen wurden angebliche Fehler der Polizei debattiert.

Man kann das mit Professor Werner Patzelt als Beleg dafür nehmen, daß die Gefahr des Linksextremismus infolge der „Kulturrevolution von 1968“ „unterschätzt“ wird (JF 30/17). In der Neuen Zürcher Zeitung verwies Marc Felix Serrao darauf, daß die Täter und ihre Verharmloser die Vorstellung von einer „strukturellen Gewalt“ teilten und daraus das Recht auf linke Gegengewalt ableiteten. Auch das trifft zu. Doch das alles bietet keine Erklärung dafür, warum der Staat die Etablierung einer autonomen Nebengewalt, die im öffentlichen Raum eine beträchtliche Exekutions- und Einschüchterungsmacht ausübt, nicht nur duldet, sondern auf verschiedene Weise auch protegiert. 

Der Terminus „strukturelle Gewalt“ kann tatsächlich weiterhelfen. Eingeführt wurde er 1971 von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung. Er verstand darunter „die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“.

In der 68er-Kulturrevolution, die darauf abzielte, das „potentiell Mögliche“ auszudehnen und zu verwirklichen und die mit marxistischer Terminologie hantierte, wurde aus diesem unterkomplexen Naturrecht eine gefährliche Waffe. Sämtliche Normen und Regeln, die das gesellschaftliche Zusammenleben ordnen, kultivieren und zivilisieren, konnten zu „Beeinträchtigungen“ erklärt und nach dem Motto „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ in den Boden gestampft werden. Die Rechtsordnung selbst wurde als „strukturelle Gewalt“ abgetan. Der Alt-68er Bernd Rabehl faßte die Position rückblickend zusammen: „Gewalt manifestiert sich im Sicherheitsapparat, in Polizei, Militär und Geheimdienst, die nichts anderes darstellten als sicherheitspolitische Potenzen der ‘Konterrevolution’.“ Indem sie diese Institutionen attackierten, vermeinten sie den internationalen Monopolkapitalismus zu treffen, gegen den auch die Demonstranten in Hamburg anzugehen meinten.

Solche Kurzschlüsse bedeuten nicht, daß es keine „strukturelle Gewalt“ gäbe. Hier tut sich übrigens ein weites, bis dato unbeackertes Feld für konservative Theoriearbeit auf. Unter Gewalt versteht man anlaßbezogene und zeitlich begrenzte Akte, deren Akteure auf unmittelbar bedrohliche Weise ihre Stärke und Überlegenheit demonstrieren. Gewalt hat, wie Hannah Arendt im Essay „Macht und Gewalt“ schreibt, einen „instrumentellen Charakter“ und ist einem politischen Zweck untergeordnet. Arendts Fazit: „Wo die Gewalt in die Politik selbst eindringt, ist es um die Politik geschehen“, enthält einen Hinweis, wie strukturelle Gewalt erfaßt und überzeugend definiert werden könnte.

Im konkreten Fall ist es schwer zu unterscheiden, wo der Staat, die Rechtsordnung, die Politik legitime Zwänge ausüben und wo sie gewalttätig werden. Der Punkt dürfte erreicht sein, wenn der Zusammenhang zwischen dem Schutz, den der Staat gewährt, und dem Gehorsam, den er verlangt, aus dem Gleichgewicht gerät oder sogar aufgekündigt wird, das heißt, wenn der Gehorsamszwang sich verselbständigt. Man kennt diese Praxis aus ideologisch eingefärbten Diktaturen, die die Menschen dazu anhalten, ihre Lebensplanung den weltanschaulichen Prämissen unterzuordnen. Der Mauerbau 1961 war ein auf Dauer gestellter, struktureller Gewaltakt gegen die natürlichen Bedürfnisse der Eingesperrten zu dem Zweck, ein dysfunktionales System – den ausblutenden SED-Staat – am Leben zu erhalten. 

Solche Akte sind kein Exklusivmerkmal von Diktaturen. Ein struktureller Gewaltakt liegt auch vor, wenn die ethnokulturelle Beschaffenheit des Landes durch ungezügelte Zuwanderung verändert wird, wenn die Bürger die Einschränkung ihrer und ihrer Kinder Lebenschancen, die daraus folgt, aus eigener Tasche finanzieren müssen, wenn Widerspruch stigmatisiert, kriminalisiert oder durch physische Einschüchterung unterdrückt wird.

Gewalt als Faktor in der Machtausübung

Die Antwort auf die rhetorische Frage Patzelts, „wie lange statt Hamburgs ‘Roter Flora’ wohl eine ‘Braune Flora’ Bestand gehabt hätte“, liegt auf der Hand: Keinen einzigen Tag! Bereits das Kontrakultur-Haus der Identitären in Halle an der Saale, mit dem sich ein dezidiert gewaltloser Widerstand zur Masseneinwanderung und zur Multikulturalismus-Ideologie manifestiert, ist für den Staat und die Zivilgesellschaft unerträglich. Sogar der nächtliche Überfall, der kürzlich mit Pflastersteinen auf das Haus verübt wurde und ohne weiteres tödliche Folgen hätte haben können, wird – wenn man die öffentlichen Reaktionen und Nichtreaktionen analysiert – im Grundsatz als akzeptabel betrachtet.

Diese Art konkreter Gewalt ist kein unterschätztes Phänomen, sondern ein kalkulierter Faktor in der Machtausübung. Die Gewalttäter wiederum, die subjektiv den Aufstand gegen „strukturelle Gewalt“ an ihre Fahnen heften, sind blind für die Tatsache, daß sie objektiv als Exekutoren in deren Dienst stehen.

In einem Staat, der den „Kampf gegen Rechts“ zur Staatsräson erhebt, rückt linksmotivierte Gewalt zwangsläufig in die Funktion eines systemstabilisierenden Elements. In der Bundesrepublik wird „rechts“ in der Regel mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht – ein Kurzschluß, der aus der Fixierung auf das Dritte Reich herrührt. Die Staatsfixierung ist mit dem sogenannten Wunsiedel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 zum Volksverhetzungsparagraphen 130 StGB höchstrichterlich bestätigt worden. Die Richter verstehen die „Entstehung der Bundesrepublik“ als den „Gegenentwurf“ zur NS-Herrschaft und führen aus, daß „angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat“, dem Grundgesetz „eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent“ sei.

Es ist hier nicht der Platz, die Geschichtsmetaphysik und -klitterungen in der Urteilsbegründung darzulegen. Das Gericht hat, indem es den NS-Staat zum metageschichtlichen Ereignis und damit zu einem „absolut Bösen“ erhob, lediglich den Diskurs, der Politik und Gesellschaft beherrscht, in eine juristische Sprache übersetzt.

Gewalttäter dürfen sich durch die explizit „antifaschistische“ Auslegung des Grundgesetzes legitimiert fühlen. Schließlich treten sie als entschlossene Vorhut eines „absolut Guten“ der Nachhut eines „absolut Bösen“ entgegen und erfüllen so den „Gegenentwurf“ respektive die Staatsräson mit Leben.

Diese ideologisch fundierte Selbstermächtigung besitzt eine innere Dynamik, die dazu führt, daß immer mehr Bereiche und Begriffe unter den Verdacht gestellt werden, faschistisch, rassistisch oder NS-kontaminiert zu sein. Gleichzeitig wird unter dem Schlachtruf: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!, die Intensität der Gegenmaßnahmen gesteigert. Denn ist die antifaschistische Handlungslogik erst einmal in Gang gesetzt und gesellschaftlich akzeptiert, sind ihre Folgerungen und Weiterungen unwiderlegbar: Wenn die Meinungsfreiheit beschränkt werden kann, warum dann nicht auch andere Grundrechte? Tatsächlich stehen das Versammlungsrecht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder auf Unverletzlichkeit der Wohnung – der Angriff auf das Kontrakultur-Haus ist nur ein Beispiel unter vielen – längst unter dem Vorbehalt antifaschistisch-zivilgesellschaftlicher Kräfte.

Psychosen und Realitätsverlust

Es ist offensichtlich, daß die zwanghafte Fixierung auf ein metahistorisches Dogma zu Psychosen und Realitätsverlusten führt und Staat, Gesellschaft und Individuen beschädigt. Sie kann sogar zur mimetischen Anverwandlung an das führen, was man zu bekämpfen meint.

Ein unverdächtiger Zeuge ist der kommunistische Autor Willy Bredel, der im Roman „Die Prüfung“ seine Leidenszeit im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel 1933 schildert. Darin enthalten ist eine Unterhaltung zwischen den SS-Bewachern. Ihre Verachtung für Sozialdemokraten, Juden und Liberale, aber auch Konservative ist so tief wie ihr Respekt für die kommunistischen Gegner groß ist: „Einige Jungs sind richtig, die müßten bei uns sein.“ Absicht des Autors war es, den kommunistischen Heroismus im Urteil der Gegner noch größer erscheinen zu lassen. Unter der Hand aber hat er die habituelle Ähnlichkeit unter Weltanschauungskriegern bestätigt.

Dieser Typus verfügt über genügend Drohpotential, um politische Gegenkräfte präventiv auszuschalten und unliebsame Meinungen zu neutralisieren. Deshalb wird ihm Einfluß auf die politische Willensbildung eingeräumt und werden Kollateralschaden wie in Hamburg hingenommen. Das ist weder Zufall noch das Ergebnis punktueller Fehlentscheidungen, sondern strukturbedingt und deswegen um so unheimlicher.