© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Beeinflußt durch die Lüge
„Baby-Spicing“ 1914 oder Stammheimer „Isolationsfolter“: Die Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff präsentieren in kurzweiliger Form Beispiele von Falschmeldungen, die sogar auf politisches Handeln Auswirkungen hatten
Tobias Dahlbrügge

Fake News hießen früher ganz bescheiden „Gerüchte“, „Falschmeldungen“ oder schlicht „Enten“. Fake News sind gefährlich, weil sie die öffentliche Meinung manipulieren können. Genau dazu werden Fake News in Konflikten eingesetzt.

Zum Beispiel das Gruselmärchen aus dem Ersten Weltkrieg von den belgischen Kindern, denen deutsche Soldaten angeblich die Hände abgehackt hätten. Die „Beweisbilder“ abgehackter Kinderhände stammten in Wahrheit von belgischen Gräueln in ihrer kongolesischen Kolonie. So wird seit Ewigkeiten munter gelogen und betrogen, daß sich die Medien biegen. Manche dieser Fake News entwickeln ein zähes Eigenleben und gehen in die kollektive Allgemeinbildung ein, so wie die Behauptungen, Bundespräsident Lübke habe einst in Liberia „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger“ gesagt, in den USA kämen jährlich hunderttausend (wahlweise 300.000) Menschen bei Schießereien um, oder Frauen würden im gleichen Beruf weniger verdienen als Männer. Diese modernen Sagen gehören zum Grundinventar linker Stammtische.

Die beiden Welt-Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff haben 2002 das gemeinsame Buch „Deutsche Legenden. Vom ‘Dolchstoß’ und anderen Mythen der Geschichte“ veröffentlicht. Nun legen sie erneut gemeinsam „Fake News machen Geschichte – Gerüchte und Falschmeldungen im 20. und 21. Jahrhundert“ vor. Darin haben sie elf Beispiele von 1933 bis 2015 ausgewählt, deren Geschichte nacherzählt, die Auswirkungen beschrieben, ihre Spur aufgedröselt und die wahren Hintergründe dargelegt.

Doch zuerst definieren sie, was ein Gerücht wirklich ausmacht: Wörtlich heißt es „unverbürgtes Gerede“, sinngemäß bedeutet es Hörensagen aus fragwürdiger Quelle, das aber einen Wahrheitsanspruch reklamiert. Das Gerücht ist das „älteste Massenmedium der Menschheit“. Um seine Wirkung entfalten zu können, braucht es eine kollektive Stimmung, die aus dem Gefühl resultiert, nicht aufrichtig informiert zu sein. Das Gerücht kann auf gutgläubig-fahrlässiger Veröffentlichung unbestätigter Informationen beruhen oder bewußt und professionell mit dem Ziel rascher Verbreitung in die Welt gesetzt werden. Das kann sowohl „von oben“, also den Eliten, als auch von unten aus dem Volk geschehen.

Virulentes Gerücht über einen Militärputsch 1933

Das erste Beispiel der Autoren ist das Gerücht um einen Militärputsch der Potsdamer Garnison in den letzten Januartagen des Jahres 1933, das Reichspräsident von Hindenburg dazu bewegte, seinen Widerstand gegen eine Ernennung Hitlers zum Kanzler aufzugeben. Die Meldung vom angeblich drohenden Putsch beruhte auf Geschwätz des zurückgetretenen Reichskanzlers Kurt von Schleicher, das als „stille Post“ den Weg zu Hindenburg fand.

Eine eher heitere Anekdote ist die Kartoffelkäferplage von 1950 in der DDR. Das Auftreten großer Schwärme der Schädlinge wurde von braven DDR-Bürgern mit angeblichen Sichtungen unbekannter Flugzeuge in Verbindung gebracht. Die Staatspropaganda machte daraus einen „biologischen Krieg“ der imperialistischen Westmächte: Die USA würden die Käfer absichtlich abwerfen, um den Arbeitern und Bauern im sozialistischen Paradies die Lebensgrundlage zu entziehen. In einer gewaltigen Kampagne wurde dazu aufgerufen, die „Ami-Käfer“ einzusammeln und zu vernichten.

Eine Fake News mit gewaltiger Wirkung war das Gequatsche von der „Isolationsfolter“ in der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim, der die RAF-Mörder angeblich ausgesetzt waren, die sich in obszöner Weise selbst mit den KZ-Häftlingen von Auschwitz verglichen. Die Mär geht auf selbstmitleidiges Geheule von Ulrike Meinhof zurück, das ihre Unterstützer draußen für bare Münze nahmen. Das Schauermärchen wurde verstärkt durch Anwälte, Künstler und Journalisten, die mit den Terroristen und ihren Taten sympathisierten, sowie eine riesige Fan-Szene, die zu kriminellen Höchstleistungen motiviert wurde. In Wahrheit genossen die „Stammheimer“ eine privilegierte Luxus-Haft, von der einfache Strafgefangene nur träumen konnten.

Der Fehlschluß eines Bodenkundlers wurde mit maßlosen Superlativen wie „Öko-Hiroshima“ und sogar „Öko-Holocaust“ um 1980 so lange durch die Medien genudelt, bis er als „Le Waldsterben“ bzw. „The Waldsterben“ sogar Eingang in fremde Sprachen fand.

Ein Tweet aus dem Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge (Bamf) vom 25. August 2015, der von Aberzehntausenden aus Nordafrika und dem Nahen Osten auf ihren Smartphones gelesen wurde, stürzte Deutschland ins Chaos: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitgehend faktisch nicht verfolgt“ – die Blanko-Einladung nach Germany! Alle Dementis glaubte niemand mehr …

Auch heute kursieren Fake News in der Politik

Zu den Beispielen, die es nicht ins Buch geschafft haben, gehören Lügen wie „Deutschland hat den Ersten Weltkrieg begonnen“ oder die mittlerweile selbst an manchen Schulen gelehrte Weisheit „Die Türken haben Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut“, was in Anbetracht des Anwerbeabkommens des Wirtschaftswunderlandes Bundesrepublik mit der Türkei von 1961 recht bizarr ist. Das Bemerkenswerte: Diese Fake News sind nicht von obskuren Verschwörungszirkeln oder irgendwelchen „Reichsbürgern“ in die Welt gesetzt worden, sondern von politischen Eliten oder selbsternannten „Qualitätsmedien“. 

Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: Fake News machen Geschichte. Gerüchte und Falschmeldungen im 20. und 21. Jahrhundert. Ch. Links Verlag,  Berlin 2017, gebunden, 328 Seiten, Abbildungen, 20 Euro