© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/17 / 17. November 2017

Antiquitäten-Schmankerl
Während einige alte Gerichte ihre Wiederentdeckung feiern, werden andere auch weiterhin vergessen bleiben
Verena Rosenkranz

Wer in heutig Zeiten leben will, muß haben ein tapferes Herz“, lautet der Liedtext eines Volksliedes von 1876. Gemeint ist weniger das Organ, als vielmehr ein standfester Charakter. Schenkt man allerdings so manchem Volksmund Glauben, bekommt ein tapferes und vor allem starkes Herz im medizinischen Sinne, wer regelmäßig besagtes Organ eines erlegten Tieres verspeist. Vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert findet man das romantischste aller Körperteile darum nicht nur aufgrund oftmals knapper Nahrungsversorgung auf allen Speisekarten quer durch Europa. Vor allem in der nord- und mittelfranzösischen Küche wurde das Herz zu seiner Blütezeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert gerne in einer Rotweinsauce stundenlang geschmort und in dünne Stücke geschnitten serviert. Mit dem einziehenden Wohlstand verschwand langsam sowohl die Gewohnheit, Herz zu essen, als auch das Wissen um dessen Zubereitung. 

Neuerdings gilt jedoch Kalbs-, Lamm- oder Rinderherz unter Feinschmeckern wieder als besonders zart und schmackhaft. Das Muskelgewebe hat mit der schwammigen Struktur der übrigen Innereien nichts zu tun und erinnert an einen feinen Wildgeschmack. In Ungarn ist die Herzsalami bis heute eine Spezialität, zubereitet wird sie jedoch nur noch von wenigen Fleischern, deren Existenz von großen Konzernen mehr und mehr bedroht wird. In der südlichen Puszta beteiligt sich oftmals bis heute noch eine ganze Dorfgemeinschaft an der Herstellung des besonderen Wursterlebnisses.

Köche packen die Rezepte der Ur-Großmutter aus 

Obwohl Herz und andere Organe seit jeher vergleichsweise günstig sind, waren auch sie in früheren Zeiten größter Not für die Armen kaum erschwinglich. Ganz im Gegensatz zu selbst angebautem Gemüse und Getreide. Eine der schmackhaftesten „Speisen der Armen“ schafft es aktuell wieder auf die Tische. Einst im italienischen und kroatischen Raum weit verbreitet, geriet der Bohnenknödel ebenso in Vergessenheit wie das Herzragout. Heute wird er oftmals mit Speck verfeinert, wenn man ihn vor allem in der Gegend rund um Südtirol auf den Speisekarten findet.

  Aus ganz und gar nicht ärmlichen Verhältnissen stammen die verschiedenen Bratenvariationen und deren Beilagen in der englischen Küche. Sie galt im 19. Jahrhundert als Vorreiter in der noblen Speisenzubereitung, sogar Frankreich blickte zu den Inselbewohnern. Dank dem relativ günstigen Import von exotischen Produkten aus den Kolonien zauberten die Hausangestellten der Oberschicht wahre Kunstwerke. Wer sich mit der britischen Küche beschäftigt, stößt dabei unweigerlich auf den Namen Isabella Beeton, die ein Lexikon für Küchenangestellte und die aufstrebende Mittelschicht herausgab. Dabei beschreibt sie vom Prozeß des Erlegens, dem Häuten und anschließenden Verarbeiten zu einem klassischen Sonntagsgericht alle Arbeitsschritte. 

Bis heute ist es in den gehobenen Familien Britanniens zwar üblich, am Sonntag einen sogenannten „Roast“, also Braten, zuzubereiten, nur selten sind es aber noch die ursprünglichen Zutaten wie um 1860. Geröstete Gurken oder ein mit Minze abgeschmeckter Hase waren kurzzeitig auch zwischen London und Edinburgh in Vergessenheit geraten. Hoffnung auf ein Wiederaufleben dieser lange Zeit bewährten und schmackhaften Gerichte gibt es allerdings: Immer mehr selbsternannte Koch­experten präsentieren in den unzähligen Küchenshows Europas die Rezepte aus Urgroßmutters Kochbuch wieder als wahre Gourmethöhepunkte. Daß sich dabei allerhand Skurriles einschleicht, zeigt der Trend, möglichst alte Milchkühe zuzubereiten. Nach wochenlangem Abhängen des meist schon sehr zähen Fleisches werden kleine Stücke des Rindes in Gulasch oder auch zu getrocknetem „beef jerkey“ verarbeitet.

Einige Schmankerl vergangener Dekaden werden dagegen wohl kaum zurück in die Gaststätten finden – weil sie mit Blick auf den Umwelt- und Tierschutz verboten sind. Dazu gehört neben im Mittelalter beliebten Biberschwänzen und Fischotterdelikatessen auch die bis in die siebziger Jahre besonders in Brandenburg angesagte Schildkrötensuppe. Nach dem Abhacken des Kopfes fing man ihr Blut auf und kochte alles gemeinsam mit Fischfond und Gewürzen.

Mit zunehmender kultureller Offenheit vielleicht wiederentdeckt werden könnte dagegen das gebackene Kamel auf arabische Art. In einem Kochbuch für heute zumindest noch in Europa verbotene Gerichte findet sich neben der recht anschaulichen Beschreibung auch der Hinweis, doch möglichst ein großes privates Grundstück für die Zubereitung aufzusuchen. Nachdem in Sand oder Erde eine entsprechend große Grube ausgehoben wurde und das Feuerholz bis auf die Glut heruntergebrannt ist, müssen zuerst 200 Eier gekocht werden, diese werden in gebratene Karpfen gesteckt. Die Karpfen wiederum in große Hühner und diese in gegrillte Schafe, bis zuletzt zwei gefüllte Schafe in das Kamel gestopft werden. Für den Garungsprozeß sollten etwa zwei Tage einkalkuliert und zum Essen rund 400 Personen eingeladen werden.