© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Die Zahlen klagen an
Wohnungsmarkt: Seit Jahrzehnten mißlingt die Baupolitik in Deutschland
Christian Schreiber

Mit Immobilieneigentum läßt sich in Deutschland sehr viel Geld verdienen. Gleichzeitig wächst aber die Zahl derer, die keine Bleibe haben oder ihre Miete kaum noch bezahlen können. Nach einer Einschätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) waren im Jahr 2016 rund 860.000 Menschen in Deutschland ohne feste Wohnung. Dies entspricht einem Anstieg von mehr als 150 Prozent. Die Prognose der BAG W sieht in den kommenden Jahren einen Anstieg auf 1,2 Millionen Menschen ohne Bleibe voraus.

Dies ist die Folge gewichtiger Änderungen und politischer Fehlsteuerungen: Seit dem vergangenen Jahr wird die Zahl der wohnungslosen anerkannten Flüchtlinge in die Berechnungen mit eingeschlossen. 2016 gab es gut 420.000 Wohnungslose ohne Einbezug der Flüchtlinge. Die in Folge der Flüchtlingskrise massiv gewachsene Gruppe der Migranten, stellt folglich etwa die Hälfte aller Wohnungslosen in Deutschland. Wohnungslose Einwanderer seien allerdings sowohl Nachfragende in den Behelfsunterkünften als auch auf dem regulären Wohnungsmarkt. „Auch ohne Berücksichtigung der Wohnungslosigkeit von Flüchtlingen müssen wir leider davon ausgehen, daß der Anstieg der Wohnungslosenzahlen zwischen 2015 und 2016 unseren früheren Prognosen entsprochen hat. Die Zuwanderung hat die Gesamtsituation dramatisch verschärft, ist aber keinesfalls alleinige Ursache der neuen Wohnungsnot“, erklärte Thomas Specht, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft.

Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos

Als Wohungslos gilt auch beispielsweise, wer nicht selbst mietvertraglich abgesichert ist, etwa wenn ein Amt die Unterkunft zahlt. Die Zahl der Obdachlosen beträgt nach den Berechnungen der Organisation etwa 52.000. Seit 2014 entspricht dies einem Anstieg um 33 Prozent. „Die Zuwanderung wirkt zwar verstärkend, aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung“, betonte Specht. Der dramatische Preisanstieg sei auch Folge des geringen Angebots an bezahlbarem Wohnraum. Der Sozialwohnungsbestand schrumpfe ständig. Besonders schwierig ist die Situation in Ballungsgebieten und Großstädten wie Berlin. In der Bundeshauptstadt müssen bis 2030 mindestens 194 .000 neue Wohnungen gebaut werden, um den angespannten Wohnungsmarkt zu entlasten. Das geht aus einem Bericht der zuständigen Senatorin Katrin Lompscher hervor. Demnach seien allein bis 2021 etwa 100.000 Neubauwohnungen notwendig.

Länder und Kommunen drängen den Bund daher verstärkt, günstige Grundstücke für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Der Bundesrat beschloß Anfang November auf Initiative von Berlin, Brandenburg und Bremen, einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Liegenschaftspolitik beim Bundestag einzubringen, um den Bedarf an bezahlbarem Wohnraum zu sichern. CDU, CSU, FDP und Grüne hatten in ihren Sondierungsgesprächen für die vorerst geplatzte Jamaika-Koalition bereits in Erwägung gezogen, Bundesgrundstücke günstig zur Verfügung zu stellen, um mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen zu können.

Probleme, bezahlbare Wohnungen zu finden, haben mittlerweile gar Beamte, Polizisten und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. Sie stehen nach Gewerkschaftsangaben wegen steigender Mieten in Ballungsräumen unter enormem Druck. „Wohnen in Großstädten ist für viele Polizisten unbezahlbar“, sagte der Vizechef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Ernst Walter, der Deutschen Presse-Agentur. „Explodierende Mieten und unbezahlbare Immobilien machen die Arbeit für Polizisten und andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in Ballungsräumen immer unattraktiver“, sagte Walter.

Wie die DPA aus einer aktuellen Studie im Auftrag des Verbändebündnisses Wohnungsbau der Bau- und Immobilienbranche zitiert, kann sich in den sieben Städten mit besonders angespanntem Wohnungsmarkt eine Familie mit einem mittleren Einkommen von 2.168 Euro netto weniger als 70 Quadratmeter leisten. Dies seien Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München und Stuttgart.

In den kommenden Jahren dürfte sich die Situation noch weiter verschärfen. Dies zeigt eine Hochrechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des Immobilieninvestors Deutsche Investimmobilien (d.i.i.), über die die Tageszeitung Die Welt berichtete. Demzufolge müßten bis zum Jahr 2020 bundesweit rund 385.000 Wohnungen pro Jahr gebaut werden, um den Bedarf abzudecken, der durch die Binnenwanderung und die Zuwanderung entsteht. Gleichzeitig jedoch umfasse die Bautätigkeit nur die Hälfte, dessen was in Deutschland notwendig sei. In einzelnen Großstädten sei das Mißverhältnis sogar noch weitaus größer: „Vor allem aber werden Wohnungen oft am falschen Ort gebaut und oft nicht jene, die wirklich gebraucht werden“, heißt es in der Studie. So gibt es Leerstände in mittlerweile dünnbesiedelten Gegenden, aber einen Preiskampf in den Großstädten. Steigende Mieten machen es auch Rentnern zunehmend schwer, in ihrer Wohnung zu bleiben. „Das größte Problem älterer Menschen auf dem Wohnungsmarkt ist sicherlich die ständig steigende Mietbelastung“, sagte Ulrich Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes. Davon seien Ältere mit geringem Einkommen besonders betroffen. Viele wohnten zudem noch in einer relativ großen Wohnung, dann machten sich Erhöhungen pro Quadratmeter besonders bemerkbar.

Politische Fehlsteuerungen befeuern die Not

Am Wohnungsmangel in Deutschland ist der Gesetzgeber freilich nicht unschuldig. Denn trotz der Knappheit in vielen Städten ist die Zahl der Baugenehmigungen insgesamt stark gesunken. Laut dem Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsbauunternehmen (BFW) lassen sich die sinkenden Genehmigungszahlen vor allem auf eine gesetzliche Neuerung zurückführen. Die verschärfte Energieeinsparverordnung (EnEV) ließ die Baukosten um sieben Prozent ansteigen, gleichzeitig bremst die Neuerung, indem Anträge wegen Nicht-Einhaltung der veränderten Vorschriften abgewiesen werden müssen. Aber auch der Mangel an bezahlbarem Bauland gilt als Hinderungsgrund. „Hohe Grundstückspreise lassen einen frei finanzierten Wohnungsneubau zu bezahlbaren Mieten vielfach nicht mehr zu“, heißt es in einer im September publizierten Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).

Fachleute plädieren für zusätzliches Bauland am Rand der Großstädte. „Wichtig ist es daher, neues Baurecht zu schaffen, zum Beispiel durch Umwidmung von Ackerflächen, Weiden oder alten Industrieflächen“, sagte Michael Voigtländer vom IW gegenüber der FAZ. Auch die Änderung des Bauplanungsrechts 2016 schuf mit den neuen „Urbanen Gebieten“ mehr Möglichkeiten für Bauherren. Doch meist stoßen derartige Änderungen auf den Widerstand von Bewohnern gegen Neubaugebiete oder Umwidmung. Am Beispiel der Berliner Wohnbaugenossenschaft WBV Neukölln eG läßt sich die starke Nachfrage veranschaulichen. Für 13.000 Mitglieder stehen nur 5.700 Wohnungen zur Verfügung. Von 23 Berliner Genossenschaften haben sieben die Neuaufnahme von Mitgliedern fast gänzlich ausgesetzt. 

Stadtplanungsexperten in mehreren Kommunen hingegen streiten seit Jahren über den Abriß von Plattenbauten. Die Oberen im thüringischen Suhl fordern gar Hilfe vom Land, um Leerstände zu beseitigen. Kritiker warnen vor voreiligem Aktionismus – die Stadtflucht könne bald beginnen.