© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn

Sex sells, auch im Gespräch. Die Künstler am Nachbartisch witzeln über einen aktuellen Malerstar und dessen sexuelle Ansprüche. Offenbar habe ihn in all den Jahren noch niemand darüber aufgeklärt, daß die eigene Ausstellung nicht mit einem Call-Girl-Service zu verwechseln sei. Diese Blase des gegenwärtigen Kunstbetriebs, der als ein Potemkinsches Dorf hermetischer Begriffe und Diskurse erscheint, das gar keinen Inhalt mehr hat, zeigt aktuell der sarkastische Kinofilm „The Square“. Dort wird eine rechteckig ausgeschnittene Fläche des Platzes – an einer Stelle, wo zuvor eine historische Figur samt Sockel entfernt wurde – zur Kunst erklärt, einem Symbol der „relationalen Ästhetik“: „Der Square ist eine Zufluchtsstätte des Vertrauens und der Achtsamkeit, in der alle die gleichen Rechte und Pflichten haben.“ Wenngleich das wirkliche Grauen hier eher angedeutet und angespielt wird – so in dem Atavismus des russischen Aktionskünstlers, der als Gorilla eine Tischgesellschaft bis aufs Blut provoziert, oder in dem unheimlich aggressiven Jungen, der die geballte migrantische Faust symbolisiert –, wird es im Künstlerhaus Bethanien explizit inszeniert.


Dieses liegt nur wenige Meter vom Kottbusser Tor entfernt, einem Ort wirklicher Gefährdung. Die internationale Schau „Neue Schwarze Romantik“ – eine Idee des 2014 verstorbenen Kurators Peter Lang (JF 35/14) und Fortschreibung der Sonderausstellung „Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst“ im Frankfurter Städel-Museum 2012 – zeigt neueste Arbeiten, die die Schattenseiten der Aufklärung ins Licht rücken (bis 10. Dezember 2017, anschließend in Backnang, Bregenz und Prag). Besonders eindrücklich sind hier die filigranen Zeichnungen Ralf Ziervogels, die unheilschwangeren Plastiken von Philip Topolovac oder die Werke Alexandra Baumgartners, etwa deren ineinander überkreuzte schwarze Harfen – einer gespenstischen Zumutung, die beim Betrachter arachnophobische Reaktionen auslösen mag. Auf diese Weise spinnen die Künstler „ein listiges Spiel mit der Wahrnehmung“ des Publikums, mit dessen „Ängsten und kollektiven Phantasien“. Dabei verhielten sie sich spiegelbildlich zu den vielen Menschen heute, so Kurator Christoph Tannert, die „den Kommentatoren und Faktenprüfern nicht vertrauen und an ihre eigenen Wahrheiten glauben“. Greifbar und zugleich veredelt wird das sublimierte Grauen im begleitenden bibliophilen Katalog, einer wahren Inkunabel der Buchkunst, durch die die persönliche Retrospektive auch ein haptisches Erlebnis wird (www.bethanien.de/publications).