© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Wichtiger Schritt auf dem Weg zur Atombombe
Vor 75 Jahren löste Enrico Fermi in den USA die erste gesteuerte Kernspaltungs-Kettenreaktion aus
Jürgen W. Schmidt

Ende November 1942 konnten Anwohner des Stadions „Stagg Field“ der Universität Chicago ungewöhnliche Aktivitäten beobachten. Das Stadion war von Bewachungskräften umstellt und Lastkraftwagen transportierten kontinuierlich irgendwelche schweren Güter an. 

Hier entstand unter strenger Geheimhaltung unter einer stillgelegten Tribüne in Verantwortung des „Metallurgical Laboratory“ der Universität der weltweit erste Kernreaktor. Für den Bau waren 349,725 Tonnen Graphit höchster Reinheit, 36,556 Tonnen Uranoxid und 5,625 Tonnen Uranmetall in Ziegelform erforderlich, welche in 57 genau abgestuften Schichten angeordnet waren. Schachtähnliche Kanäle durchzogen das Ganze, in welchen Kadmiumbleche steckten, welche bei Gelingen des Experiments dazu dienen sollten, den Kernspaltungsprozeß wieder abzustoppen. Kadmium hemmt nämlich den Neutronenfluß. 

Der erste Kernreaktor erreichte eine Höhe von 7,60 Meter und wurde später als „Chicago Pile 1“ (Chicago-Stapel 1) bekannt. Während das „Metallurgical Laboratory“ der Universität Chicago von Professor Arthur Holly Compton, dem Physik-Nobelpreisträger von 1927, geleitet wurde, stand das eigentliche Experiment mit dem Reaktor unter Aufsicht Enrico Fermis, des Physik-Nobelpreisträgers von 1938. Eigentlich war der in Rom geborene Fermi Italiener und damit ein „feindlicher Ausländer“. Doch hatte Fermi 1938 Italien verlassen und war in die USA ausgewandert, weil er sich wegen seiner jüdischen Frau antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sah. 

In den USA liefen seit 1940, ebenso wie in England, Anstrengungen an, eine Kernwaffe zu schaffen. Ursache waren alarmierende Nachrichten, daß auch in Deutschland an einer solchen Waffe gearbeitet werde. Sowjetische Agenten in England (der Diplomat Donald Maclean und der emigrierte kommunistische Physiker Klaus Fuchs) hatten sogleich ihren Moskauer Auftraggebern darüber umfassend berichtet. Seitdem verfolgte Stalins Geheimdienstchef Lawrenti Berija aufmerksam die diesbezüglichen anglo-amerikanischen Arbeiten, worüber er regelmäßig Josef Stalin Bericht erstattete. Ab 1941 liefen auch in der Sowjetunion ernsthafte Anstrengungen für die Herstellung eigener Kernwaffen an.

In den USA, seit Dezember 1941 im Krieg mit Deutschland und Japan zugleich befindlich, begann man jedenfalls ab 1942 bezüglich künftiger Kernwaffen ganz entschieden Nägel mit Köpfen zu machen. Während die aus aller Welt in die USA geströmten Kernphysiker sich noch mit Grundlagenforschungen beschäftigten, bekam die US Army am 18. Juni 1942 den Auftrag von Präsident Franklin D. Roosevelt, im Rahmen des sogenannten „Manhattan-Projekts“ alle benötigten Atomanlagen schnellstmöglich zu errichten. In der Person des 46jährigen Oberst Leslie Groves, der aus dem Pionier-Korps der Armee stammte und gerade das Bauprojekt des riesigen Pentagon leitete, fand man den geeigneten Technokraten, der in ruppiger Weise, doch zugleich sehr effektiv alle Schwierigkeiten überwand und alle nötigen Atomfabriken, Versuchsstände und Laboratorien aus dem Boden zu stampfen begann, noch bevor mittels praktischer Experimente die Möglichkeit zur Schaffung von Kernwaffen erhärtet war. 

Der als Vorschuß zum Brigadegeneral beförderte Groves war anfänglich über den ihm erteilten Auftrag zur Herstellung von Atomwaffen ziemlich wütend, denn er hatte sich nach Abschluß des Pentagon-Projekts eigentlich eine mehr kriegerische Verwendung erhofft. Doch vielsagend bedeutete man ihm: „Wenn Sie die Sache meistern, wird diese allein den Krieg gewinnen.“ Inzwischen blieben die von General Groves wenig liebevoll als „crack-pots“ (Knallköpfe) bezeichneten Kernphysiker, unter denen sich neben den Nobelpreisträgern Compton, Lawrence, Urey, Franck und Fermi auch später namhaft gewordene Physiker wie Robert Oppenheimer, Leo Szilard und Edward Teller befanden, nicht untätig. 

Erfolgreiche Kernspaltung ermöglichte Bombenbau

Am 2. Dezember 1942 gelang ein wichtiges „Basisexperiment“. Enrico Fermi setzte den ersten Atomreaktor der Welt in Gang. Damit hatte er bewiesen, daß es möglich war, eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion in Gang zu setzen, welche Energie lieferte und „moderierfähig“ war, sich also steuern und wieder abstoppen ließ. Ab 10 Uhr ließ Fermi die zur Steuerung der Kernspaltung dienenden Kadmiumbleche eins nach dem anderen aus dem Reaktor ziehen. Es war nach Chicagoer Zeit um 15.25 Uhr, als der erhöhte Neutronenfluß zeigte, daß die Kernspaltung einsetzte. 

Ganze 28 Minuten ließ man nun diesen Prozeß gewähren, ehe man ihn durch das Einschieben der Kadmiumsteuerelemente wieder abstoppte. Damit hatte Fermi bewiesen, daß eine Kernspaltung nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich und zudem beherrschbar war. Der Schaffung einer künftigen Atombombe stand nun nichts mehr entgegen. Doch zugleich war ein Weg zur künftigen friedlichen Nutzung der Kernenergie mittels spezieller Kernkraftwerke geöffnet. Enrico Fermi, einer der bedeutendsten Kernphysiker des 20. Jahrhunderts, verstarb mit 53 Jahren am 28. November 1954 in Chicago an Magenkrebs.