© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

Konstruierte Kontinuitäten
Kein Weg führt von Ludendorff zu Himmler
Oliver Busch

In den letzten zwanzig Jahren fanden Historiker, viele angelsächsische darunter, erstaunliche öffentliche Resonanz mit Thesen zur „Kontinuität deutscher Militärkultur“ zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg. Dabei ergaben sich die schwersten Anklagen zum einen aus der Kriegführung an der Front gegen Rußland, die als „Vorläufer des Vernichtungskriegs“ zwischen 1941 und 1945 geschichtspolitisch Karriere machte, zum anderen aus der deutschen Besatzungsverwaltung in Litauen („Ober Ost“), wo etwa der US-Litauer Vejas G. Liulevicius ein „Versuchslabor des totalitären Staates“ zu entdecken glaubte. Nach der Lektüre der Studie von Peter Lieb (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam) über „Der deutsche Krieg im Osten 1914–1919“ (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 4/2017) dürfen einige Regalmeter solcher „Kontinuitäts“-Mären getrost als Makulatur betrachtet werden. 

Sicher, so räumt Lieb ein, die Kriegführung sei im Osten radikaler gewesen als im Westen. Aber das gelte nicht für die deutsche Seite! Gewiß gab es Massendeportationen, doch das Zarenreich übernahm dabei „zweifellos die Vorreiterrolle“. Natürlich fehlte es nicht an „Entgrenzungen“ der Gewalt. Aber 1914 bildete hierfür keine Zäsur, „denn massenhafte Verstöße“ gegen das Völkerrecht zögen sich wie ein roter Faden durch die Militärgeschichte. Zumal Krieg per se ein „Akt der Gewalt“ (Clausewitz) sei. „Vorschnelle Kontinuitätsthesen“ ließen sich sogar mit einer provokanten Gegenthese kontern: Trotz der Massenheere, zerstörerischer Waffensysteme und nationalistischer Ideologisierung „war der Krieg an der Ostfront bis 1917 erstaunlich wenig entgrenzt“. Und das deutsche Militär habe einen weniger gewaltsamen Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt und seine Kriegsgefangenen besser behandelt als Österreich-Ungarn und vor allem Rußland.

Die „Ober Ost“-Verwaltung plante zwar zu siedeln. Allerdings blieb es bei Plänen, „ganz im Gegensatz zur radikalen Russifizierungspolitik im russisch besetzten Galizien“. Nebenher erinnert Lieb in diesem Kontext an die gern vergessene französische Ausweisung von 150.000 Reichsdeutschen aus Elsaß-Lothringen (1918/19) – auch eine „ethnische Säuberung“. Schließlich fehlte es während der Nachwehen des Ostkrieges, dem Abwehrkrieg gegen die Rote Armee im Baltikum (1919), der als Urzelle des „Vernichtungskrieges“ gegen Stalins Sowjetunion gilt, am „zentralen Motiv der NS-Politik“, dem „Antisemitismus“, der „nicht handlungsleitend war“.