© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/17 / 24. November 2017

„Provokateure, Lumpen und Schweine“
Die britische Historikerin Catherine Merridale zeichnet die Reise Lenins durch Deutschland nach
Paul Leonhard

Der Abschied aus Zürich verlief an jenem Ostermontag des Jahres 1917 mehr als frostig. Als „Provokateure, Lumpen und Schweine“ wurden jene 33 Erwachsenen, die mit Bolschewistenführer Wladimir Iljitsch Uljanow, Lenin genannt, an der Spitze einen Nahverkehrszug nach Schaffhausen bestiegen, von den zurückbleibenden russischen Emigranten beschimpft. Für die Provisorische Regierung in Petrograd waren sowieso alle Hochverräter, die sich auf Verhandlungen mit dem deutschen Kaiserreich eingelassen hatten.

Genau aber das hatte Lenin getan. Die Geschichte seiner Zugreise von der Schweiz quer durch Deutschland über Schweden und Finnland nach Rußland gehört seitdem zu den Mythen der bolschewistischen Revolution. Viel ist über sie geschrieben und noch mehr verschwiegen worden. In den Aufzeichnungen von Bethmann Hollweg, Ludendorff, Masaryk, Miljukow, Kerenski, Parvus-Helphand, Trotzki, Lenin, Sinowjew, Radek und vielen anderen werde die Reise entweder überhaupt nicht oder ungenau und dann in sehr einseitiger Sicht behandelt, konstatiert der Historiker Werner Hahlweg in seinem schon 1957 in den Vierteljahrsheften des Instituts für Zeitgeschichte München erschienenen Beitrag „Lenins Reise durch Deutschland im April 1917“.

Eine Reisereportage über Lenins Weg nach Rußland

Dabei waren bereits 1924 die Erinnerungen des Schweizer Kommunisten Fritz Platten unter dem Titel „Die Reise Lenins durch Deutschland im plombierten Wagen“ erschienen, deren Veröffentlichung Lenin persönlich angeregt hatte. Platten konnte aus erster Hand erzählen, denn er saß nicht nur im Zug, sondern hatte den Ablauf der Fahrt als Vertrauter Lenins detailliert mit den deutschen Behörden ausgehandelt.

Die „grausigste aller Waffen“ hätten die Deutschen im Frühjahr 1917 auf Rußland gerichtet. So beurteilt Churchill diese Maßnahme der Obersten Heeresleitung zur Zerstörung des Zarenreiches: „Sie beförderten Lenin wie einen Pestbazillus in einem plombierten Waggon aus der Schweiz nach Rußland.“ Und Hahlweg staunt: „Waren die verantwortlichen Leiter der deutschen Politik tatsächlich der Meinung, einen Pakt mit der Revolution eingehen zu können, in der sicheren Gewähr, sie würde vor den Toren des Kaiserreiches Halt machen?“

Anläßlich des 100. Jahrestages der russischen Revolution hat sich jetzt die britische Historikerin Catherine Merridale des Themas angenommen. Sie hat sich nicht nur in den Archiven und der schon erschienenen Literatur auf Spurensuche begeben, sondern ist auch, wie Lenin 1917, von der Schweiz bis ins russische Sankt Petersburg mit dem Zug gefahren. Das Resultat der einwöchigen Reise ist das Buch „Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution“, in dem sie im modernen Reportagestil und gespickt mit amüsanten Anekdoten die Reise der Revolutionäre beschreibt, als wäre sie damals dabeigewesen. 

Leider läßt sich Merridale von der Fülle des Materials verführen, auch Nebenstränge sehr ausführlich auszuleuchten. Etwas unterbelichtet bleibt dagegen die deutsche Seite, wie die Autorin überhaupt etwas arrogant über die Überlegungen der Deutschen urteilt. Dabei war die Reise Lenins „das Ergebnis eines ständigen Zusammenspiels von Mehrheitssozialisten, Gewerkschaften, Reichskanzler, Auswärtigem Amt und Oberster Heeresleitung mit sehr unterschiedlichen Rollen“, wie Hahlweg schreibt. Die sonst allmächtige militärische Führung habe sich der politischen Leitung untergeordnet.

Davon findet sich bei Merridale kein Wort. Die Britin läßt lieber Lenin aus dem Zugfenster auf eine „verwüstete“ deutsche Landschaft schauen. Und Rügen, immerhin die größte deutsche Insel, schrumpf bei ihr zu einem „dünn besiedelten Kreidefelsen“. Ungeklärt bleibt auch das große Rätsel über den Umfang deutscher Finanzhilfen für Lenin. Wie viele andere spekuliert Merridale lediglich, daß „einige deutsche Millionen Lenins Kampfkasse erreicht haben könnten“.

Letztlich bleibt der Eindruck, daß die Britin besonders zum Ende ihres Werkes von der Vielgestaltigkeit der revolutionären Strömungen überfordert war.

Catherine Merridale: Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, gebunden, 384 Seiten, 25 Euro