© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Schutzraum an der Front
Erster Weltkrieg: Auffallend viele Künstler versahen ihren Militärdienst im Stab des Oberbefehlshabers Ost in Kowno
Walter Rix

Die Zahl der im Ersten Weltkrieg insbesondere an der Westfront gefallenen Künstler und Dichter führt in erschreckender Weise vor Augen, daß das Geschehen auch ein geistiger Selbstmord Europas war. Dagegen entstand wie eine Hoffnung verheißende Gegenwelt, wenn auch räumlich und zeitlich begrenzt, an der Ostfront eine Art Schutzraum, in dem sich zahlreiche Künstler der Bedrohung entziehen konnten.

Nach dem Triumph von Tannenberg, der siegreichen Schlacht an den Masurischen Seen und der erfolgreichen Winterschlacht gebot der Chef des Großen Generalstabs Erich von Falkenhayn im Osten Halt, weil er die Entscheidung vor Verdun suchte. Das von den deutschen Truppen eroberte Gebiet umfaßte Litauen, Kurland, Lettland, die Distrikte Augustowo sowie Suwalki und westliche Distrikte Weißrußlands. Verwaltet wurde es von November 1915 bis Juli 1918 vom Generalstab des Oberbefehlshabers Ost, an dessen Spitze Erich Ludendorff stand. Obgleich anfänglich nicht beabsichtigt, schuf die Militärverwaltung mit Sitz in Kowno (heute Kaunas) ein äußerst funktionsfähiges Gebilde, das die Züge eines Staates annahm und allgemein kurz nur als „Ober Ost“ bezeichnet wurde (JF 35/16). 

Für die Leitung der Presseabteilung holte sich Ludendorff den bei den Kämpfen um Azannes verwundeten Schwiegersohn Hermann Sudermanns, Hans Frentz. Dieser griff auf Redakteure der großen Berliner Zeitungen zurück und hob mit deren Hilfe in Kürze elf Zeitungen aus der Taufe, jeweils in der Sprache der ethnischen Zielgruppe. Darunter befand sich auch die Letzte Nais, die in Jiddisch nur von jüdischen Redakteuren gestaltet wurde. Dieses Pressewesen, zumal Schriftsteller wie Paul Fechter und Arno Schirokauer dafür arbeiteten, atmete einen Geist, der bei aller militärischen Ausrichtung viel Raum für Intellektualität ließ und in diesem Sinne weitere Kräfte nach sich zog.

Der rheinische Schriftsteller und Dramaturg Herbert Eulenberg war ein leidenschaftlicher Pazifist und Mitglied des in dieser Frage kompromißlosen „Bundes neues Vaterland“. Mit der sardonischen Freude der kleinen Geister versuchte man auf dem Hof der Kölner Ulrich-Kaserne, diesem rheinischen Charakter etwas preußischen Schliff beizubringen; ein Unterfangen, das nur im Fiasko enden konnte.

Als Ludendorff davon Wind bekam, ließ er ihn nach Ober Ost kommen. Landsturmmann Eulenberg machte Meldung bei Ludendorff, mit falsch geknöpftem Waffenrock und dem Seitengewehr an der falschen Stelle, die Travestie eines Soldaten. Ludendorff unter Schmunzeln laut Frentz: „Lassen Sie alle politischen Meinungen fort, schreiben Sie nur als Dichter. Wir sind hier an politische Vorschriften gebunden. Wenn sich dies mit Ihrer künstlerischen Psyche vereinigen läßt, soll es uns sehr freuen.“

In zahlreichen Arbeiten erwies sich der Rheinländer als ein guter Beobachter des Baltikums. Er verfaßte unter anderem ein Schauspiel mit dem Titel „Das Ende der Marienburg“ (1918), und seine zusammen mit Hermann Struck verfaßte Aufsatzsammlung „Skizzen aus Litauen, Weißrußland und Kurland“ (1916) wurde auch in der Heimat ein großer Erfolg. Schließlich schaffte er es sogar zum Unteroffizier – und später zum Ehrenbürger von Düsseldorf (1946) und Nationalpreisträger der DDR (1949).

Ober Ost war darauf bedacht, keine Feindschaften zwischen den ethnischen Gruppen auftreten zu lassen, insbesondere nicht gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Der 1876 in Berlin als Chaim Aron ben David geborene Hermann Struck, orthodoxer Jude und leidenschaftlicher Zionist, spielte als Zeichner, Lithograph und Radierer im Kunstleben Berlins bereits vor dem Krieg eine bedeutende Rolle. In Kowno richtete man ihm, der sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte, ein spezielles Atelier ein, und seine soldatische Aufgabe bestand einzig darin, nach Modellen Ausschau zu halten und diese zu porträtieren. Ludendorff hatte ausdrücklich angeordnet, daß ihm der Dienstbetrieb diese Möglichkeit einräumte. Trotz seiner künstlerischen Tätigkeit wurde Struck mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse dekoriert und zum Leutnant ernannt.

Die Ende 2016 im Hamburger „Kleinen Michel“ gezeigte Ausstellung „Das ostjüdische Antlitz – Portraits ostjüdischer Menschen von Hermann Struck 1916–1918“ vermittelte einen anschaulichen Eindruck von der schöpferischen Energie und der künstlerischen Hingabe während der Zeit in Ober Ost. 1922 wanderte Hermann Struck nach Haifa aus, wo er seinerseits eine Künstlerkolonie gründete.

Es ist durchaus erstaunlich, wer sich als „frontuntauglich“, in den Worten von Frentz: im „bedeutsamsten Kriegsunterschlupf“ einfand: so der Dichter Richard Dehmel, die Schriftsteller Alfred Brust und Sammy Gronemann, die Maler Karl Schmitt-Rottluff und Magnus Zeller sowie der Bildhauer Fritz Klimsch, um nur einige zu nennen. Bei ihren Zusammenkünften bezeichneten sie sich mit leiser Ironie als „Künstlerecke Kowno“. Spannungen unter den „Landsturmkünstlern“ blieben nicht aus. Magnus Zeller, der der Berliner Sezession angehörte, und Karl Schmidt-Rottluff, der der Freien Berliner Sezession anhing, mußten sich ein Zimmer teilen, gerieten aber infolge der unterschiedlichen Ansichten immer wieder in Streit. Hauptmann Frentz löste das Problem mit einem Stück Kreide: Ein klarer Strich auf dem Fußboden des Zimmers trennte die unterschiedlichen Lager.

Arnold Zweigs negatives Bild von Ludendorff

Bei so viel künstlerischem Geist in Kowno entwickelte die Stadt selbst ein geistiges Leben. Das Theater wurde reaktiviert, „einer Residenzstadt durchaus würdig“, wie man in den entsprechenden Kreisen meinte. Werke wie Lessings „Minna von Barnhelm“ standen auf dem Spielplan, und bekannte Schauspieler gaben eine Gastrolle.

Die durch den Krieg zusammengehaltene „Künstlerkolonie“ zerstreute sich mit dem Rückzug der deutschen Truppen in alle Winde, aber sie blieb in der Folgezeit nicht ohne Nachwirkung. Für viele Westler war geistig das Tor zum Osten aufgestoßen. Doch ihre Wirkung nahm bisweilen eine ganz besondere Form an. So wollte man Arnold Zweig, der vor Verdun mit Stellungsbau beschäftigt war, schonen und hatte ihn im Frühjahr 1917 in die Presseabteilung nach Ober Ost versetzt. In seinem Schauspiel „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, das 1927 in Romanform erschien und Weltruhm erlangte, zeichnete er in Gestalt des Generals Schieffenzahn ein extrem negatives Bild von Ludendorff. Dessen ganzes Sinnen sei einzig auf die Vernichtung des russischen Gefangenen Grischa gerichtet. Das Programm der Uraufführung des Schauspiels im Berliner Theater am Nollendorfplatz unter Max Reinhardt vermerkt sogar ausdrücklich: „Schieffenzahn ist General Ludendorff.“

Auf den Widerspruch zwischen Realität und Fiktion angesprochen, entgegnete Arnold Zweig, nicht die Wirklichkeit sei sein Anliegen, sondern die Entlarvung des preußischen Geistes.