© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Die Migrationswelle wird weiter rollen
Walberberg: Eine Gesprächsrunde in Bonn diskutierte über die Gefahren einer neuen Völkerwanderung
Björn Harms

Wer heutzutage nicht als umstritten gilt, kann eigentlich direkt einpacken“, stellt Wolfgang Ockenfels, Vorsitzender des Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg, gleich zu Beginn des 72. Walberberger Buß- und Bettags-Gesprächs klar. Um so mehr freue es ihn, daß die Vokabel auch auf zwei der geladenen Referenten zutreffe. Rund 300 Gäste im vollbesetzten Churfürstensaal des Bonner Hotels Bristol quittieren die Aussage mit lautem Beifall. Nach der kurzen Begrüßung durch Professor Ockenfels beginnen die drei Referenten Abbé Raymond Bernard Goudjo, Leiter des Priesterseminars im westafrikanischen Benin, Werner J. Patzelt, Politikwissenschaftler der TU Dresden, und Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, mit ihren Ausführungen zur Thematik: „Europa für alle? Aspekte der neuen Völkerwanderung.“

Der katholische Theologe Goudjo richtet anfangs einen eindringlichen Appell an die europäischen Völker. Eine Rückbesinnung auf die christlichen Traditionen sei dringend erforderlich, da bei einer Aufgabe des kulturellen Glaubens „Migranten versuchen werden, den Raum mit ihren Riten und ideologischen Ansichten zu füllen“. Gleichzeitig müsse Europa auf der Basis des Glaubens eine ehrliche Beziehung mit den afrikanischen Staaten führen, denn die Probleme seien weiterhin unübersehbar. Seit Jahren zöge es die Bildungselite afrikanischer Staaten in die „Mutterländer“ der ehemaligen Kolonien. Der „Braindrain“ zehre an den Möglichkeiten des gesamten Kontinents. Heutzutage gebe es mehr beninische Ärzte in Frankreich als in Benin selbst, gibt Goudjo zu bedenken. Die Völkerwanderung betreffe demnach vor allem einkommensstärkere Bevölkerungsschichten, wodurch ein Ende der Migrationswelle kaum vorstellbar sei.

Alternativlosigkeit ist nur vorgetäuscht

Anschließend folgt der Perspektivwechsel nach Deutschland. „Noch nie ließ sich die Geschichte so sichtbar aus der Gegenwart begreifen“, leitet der Werner J. Patzelt seinen kurzen Abriß der historischen Völkerwanderung im Römischen Reich ein. Eine Situation, die durchaus vergleichbar mit der heutigen sei, mahnt der Politikwissenschaftler. Er teile die Meinung von Goudjo und sähe in den Flüchtlingsströmen von 2015 nur „milde Vorboten“ dessen, was in Zukunft bevorstehe. „Durch das Internet wird die konkret gewordene Utopie sichtbar, und das auch in den letzten Winkeln Afrikas.“

Das größte Problem sei die scheinbare Alternativlosigkeit der politischen Entscheidungsträger. „Es geht nicht anders“ und „Grenzen lassen sich nicht sichern“ seien nur zwei Beispiele einer umfassenden Moralisierung des Politischen gewesen. Das Publikum lacht höhnisch auf. „Entsorgung durch Moralisierung“, nennt Patzelt die Verdrängung des rationalen Arguments aus dem öffentlichen Diskurs. 

Die politische Klasse müsse die Sorgen und Nöte der Menschen wieder ernst nehmen. Denn mit einem fortwährenden Lob der Multikulturalität drohe ein gleichzeitiger Verlust der eigenen Identität. Deshalb lohne sich ein Blick auf zwei in Buchform erschienene Dystopien, die sich eingehend mit der Problematik der Völkerwanderungen befassen. Gemeint sind die Romane „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq, in der eine muslimische Partei das politische System Frankreichs auf den Kopf stellt, sowie „Das Heerlager der Heiligen“ von Jean Raspail, eine bereits 1973 erschienene literarische Antizipation der europäischen Flüchtlingskrise seit 2015.

Klartext redet auch Udo Di Fabio in seinem Vortrag über die juristische Frage nach offenen Grenzen. „In letzter Zeit äußerten sich zahlreiche sogenannte Experten zu dieser heiklen Frage. Ich denke dann manchmal: Ich bin der einzige, der nichts mehr vom Verfassungsrecht versteht“, erzählt er belustigt. Die 2015 erfolgte Öffnung der Grenzen durch die Bundesregierung könne zwar im „Notstand zugunsten einer menschenwürdigen Behandlung von Flüchtlingen begründet werden“. Dies ändere jedoch nichts daran, daß damit allenfalls eine punktuelle, auf wenige Tage beschränkte einstweilige Maßnahme gerechtfertigt werden könne, keinesfalls aber eine längere oder gar dauerhafte Außerachtlassung des geltenden Rechts, so Di Fabio.

Er stimme Patzelts Ausführungen deshalb zu, „Schuld und Sühne“ seien abzulehnen und Probleme konkret zu artikulieren. Nicht der Klimawandel, sondern der mit der Globalisierung verbundene wachsende Wohlstand sorge für eine zunehmende Auswanderung der afrikanischen Mittelschicht. Die arme Bevölkerung habe „gar keine Mittel zur Migration“.

Kritisch sieht er auch die Rolle der Kirche, der er eine „Hypermoralisierung“ beim Flüchtlingsthema vorwirft. Das Eintreten für eine unbegrenzte Aufnahme von Einwanderern sei rational kaum zu erklären. Der Staat habe den Einzelinteressen seiner Bürger zu dienen, konstatiert der ehemalige Verfassungsrichter zum Ende seines Vortrags. „Offenheit kann nur erhalten werden, wenn sie durch Grenzen gesichert ist.“