© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/17 / 01. Dezember 2017

Demographie als Herausforderung für die Demokratie
Die neue Macht der Alten
Dirk Meyer

Auf einem Flugblatt der CDU zur zurückliegenden Bundestagswahl mit dem nüchternen Slogan „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ hieß es: „Damit es unseren Kindern, Enkeln und uns selbst auch in Zukunft gut geht, wollen wir weiter dafür arbeiten, daß Deutschland ein erfolgreiches und sicheres Land bleibt.“ Mit dieser großelternhaften Blickweise war die „Volkspartei“ gut beraten, denn die demokratische Macht geht zunehmend von der alten Generation aus.

Mit der demographischen Alterung verschiebt sich der jeweilige Altersanteil der Wahlberechtigten. Zur Bundestagswahl 2017 waren 36,1 Prozent der Wahlberechtigten 60 Jahre und älter, 34,7 Prozent lagen zwischen 40 und 59 Jahren, und nur 29,3 Prozent waren zwischen 18 und 39 Jahre alt. Verstärkend tritt ein zweites Phänomen hinzu: eine zunehmende Wahlbeteiligung im Alter. Bei der Bundestagswahl 2013 – die aktuellen Daten werden noch erhoben – lag die Wahlbeteiligung der 60- bis 69jährigen bei 80 Prozent. Die 21- bis 29jährigen kamen nur auf 62 Prozent. Bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 71,5 Prozent differierte die Teilnahme um ganze 18 Prozentpunkte. 1972 lag diese Differenz bei nur circa 10 Prozentpunkten.

Diese beiden Phänomene – Verschiebung der Altersklassen und eine mit dem Alter zunehmende Wahlbeteiligung – haben bei der letzten Wahl zu einem Medianwähleralter von etwa 55 Jahren geführt. Anders ausgedrückt: 50 Prozent der Wähler waren älter als 55 Jahre. 1969 lag dieses Alter noch bei 46,8 Jahren. Die Parteien müssen ihre Politik demnach an den Interessen insbesondere dieser Altersgruppe ausrichten, denn die entscheidet über den Wahlausgang.

Bei etwas genauerer Betrachtung sind es die um die 55jährigen, die den Wechsel der Mehrheiten in der Hand haben. Dies erklärt die besondere Stärke ihrer Interessendurchsetzung: beispielsweise die Rücknahme der Erhöhung des Renteneintrittsalters und Rente ab 63 für Arbeitnehmer, die bereits 45 Jahre Beiträge eingezahlt haben. Hinzu kommt, daß die Mitgliederzahlen der Parteien seit Jahrzehnten rückläufig sind und das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder stark gestiegen ist.

Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Politik. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog prägte den Begriff von der drohenden Rentnerdemokratie: „Die Älteren werden immer mehr, und alle Parteien nehmen überproportional Rücksicht auf sie. Das könnte am Ende in die Richtung gehen, daß die Älteren die Jüngeren ausplündern.“

Ähnliches ist in anderen Ländern zu beobachten. In Großbritannien stimmten 76 Prozent der 18- bis 24jährigen und 59 Prozent der 25- bis 49jährigen gegen einen EU-Austritt. Die Wahl für einen Brexit haben jedoch die 50- bis 64jährigen mit 53 Prozent und die über 64jährigen mit 59 Prozent Zustimmung entschieden. Nicht ganz schuldlos waren die Jungen, deren Wahlbeteiligung circa 20 Prozentpunkte niedriger lag. Auch das Ergebnis der amerikanischen Präsidentenwahl ist unter anderem auf die relativ geringe Wahlbeteiligung der jüngeren Wähler zurückzuführen, die sich nach dem Verzicht von Hillary Clintons parteiinternem Konkurrenten Bernie Sanders nicht mehr an der Abstimmung beteiligten.

Schließlich hat die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jaroslaw Kaczynski ihre absolute Mehrheit der Mandate bei der Wahl zum Warschauer Sejm im Herbst 2015 den Älteren zu verdanken. Der Stimmenanteil der unter 30jährigen für diese Partei lag mit lediglich 25,8 Prozent bei zugleich unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung weit unter dem der über 60jährigen mit 47,1 Prozent.

Bei der letzten Bundestagswahl führte das Wahlverhalten der Altersgruppen auch in Deutschland zu erheblichen Abweichungen der Stimmenanteile für die einzelnen Parteien. Laut Infratest dimap wählten die über 60jährigen eher strukturkonservativ. Mit 40 Prozent CDU/CSU und 24 Prozent SPD wäre danach eine absolute Mehrheit der Großen Koalition möglich gewesen. Die unter 60jährigen unterstützten die CDU/CSU mit nur 24 Prozent und die SPD mit 19 Prozent. Grüne (13 Prozent), FDP (12 Prozent) und Linke (11 Prozent) wur-den in dieser Altersgruppe hingegen vermehrt unterstützt. Bei den Älteren kamen die Grünen auf nur sechs Prozent, die FDP auf zehn Prozent und die Linke auf acht Prozent. Nur die AfD erzielte mit zehn Prozent gleich viele Anteile.

Als Vetospieler hat die Rentnergeneration eine hohe ökonomische Absicherung und damit Sicherheit erreicht, so daß ihr Interesse an Kompromißlösungen äußerst gering ist. Nachhaltigkeit und Langfristorientierung – für wen?

Welche Konsequenzen hat die neue „Macht der Alten“ für die zukünftige Politik? Eine alternde Gesellschaft, deren Rentnergeneration es noch nie so gut ging wie heute, will bewahren. Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (Köln) sind die bedarfsgewichteten Realeinkommen bei Personen ab 55 Jahren seit der Wiedervereinigung 1990 überdurchschnittlich angestiegen. Während für diese Altersgruppe die Einkommen real um knapp 25 Prozent zunahmen, betrugen die Zuwächse für die unter 55jährigen weniger als zehn Prozent.

Eine geringe Risiko- und Veränderungsbereitschaft führt zu wenig Offenheit für das Neue. Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastrukturprojekte bedeuten Kosten heute mit Nutzenstiftungen morgen. Bei fortgeschrittenem Lebensalter ist die persönliche Rendite hier eher gering bis negativ. Innovationen, die Anpassungen und gegebenenfalls auch persönliche Verzichtskosten bedeuten, wird Widerstand entgegengesetzt. Als Vetospieler hat die Rentnergeneration eine hohe ökonomische Absicherung und damit Sicherheit erreicht, so daß ihr Interesse an Kompromißlösungen äußerst gering ist. Nachhaltigkeit und Langfristorientierung – für wen?

Statt dessen erlangt die Verausgabung für den privaten Konsum zur Erweiterung des eigenen Lebensstandards im Jetzt eine hohe Zustimmung, soweit deren Mittelaufbringung auf die jüngeren Steuerzahler und durch Kreditfinanzierung in die Zukunft verschoben werden kann. Dies könnte auch den mittelstarken statistischen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Alten und der Staatsschuldenquote erklären. Zugleich sinkt die Investitionsquote öffentlicher Haushalte mit dem Anstieg des Medianwähleralters. Ein negativer Zusammenhang besteht auch zu den Bildungsausgaben.

Ganz offensichtlich wird die generationenabhängige Interessendurchsetzung an den Unterstützungsleistungen. Im Zeitraum 2010 bis 2016 wurde das Kindergeld (erstes Kind) um 3,3 Prozent angehoben. Der Bafög-Höchstsatz wurde in dieser Zeit um 3,4 Prozent angepaßt, wobei die Gefördertenquote aller Studenten von 18,4 auf 15 Prozent sank. Knapp 60 Prozent der Studenten gaben an, neben der elterlichen Unterstützung für ihren Lebensunterhalt während der Vorlesungszeit zusätzlich arbeiten zu müssen.

Eine Wahlpflicht widerspricht den Prinzipien einer liberalen Demokratie. Denn mangels politischer Alternativen zählt auch die Wahl­enthaltung als Votum eines Protests. Zudem dürfte ein sanktionsloser Zwang wie in Griechenland kaum Änderungen bewirken. 

Dies erklärt mit die relativ langen Studienzeiten mit erheblichen Folgen für ein gemindertes Lebenseinkommen. Demgegenüber stieg die Standard-Bruttorente (Durchschnittsverdienst und 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre) in den alten Ländern um 11,9 Prozent.

Neben der Gesundheits- und Pflegepolitik taugt als konkretes Beispiel der Interessendurchsetzung die aktuelle Rentenpolitik. Von 2001 bis 2007 konnten verschiedene Rentenreform-Gesetze nach harten Diskussionen verabschiedet werden. Sie sollten die Rente unter demographischen Gesichtspunkten tragbar machen: Neugestaltung der Rentenformel, die zu einer dauerhaften Absenkung des Rentenniveaus auf 43 Prozent vom Einkommen im Jahr 2030 führt; Begrenzung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung auf 22 Prozent des Bruttoeinkommens bis 2030; Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors in die Rentenformel; schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 65 Jahren auf 67 Jahren im Zeitraum zwischen 2012 und 2025.

Die Kehrtwende begann 2014, nachdem die beschlossenen Reformen leistungskürzend spürbar wurden. Mit der Einführung der Mütterrente für Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden, und der Einführung der Rente ab 63 für Arbeitnehmer, die bereits 45 Jahre Rentenbeiträge eingezahlt haben, wurden nicht nur systemfremde Leistungen neu aufgenommen. Zugleich wurden mühsam erreichte Reformen rückgängig gemacht. Kurz vor der Bundestagswahl konkretisierte die SPD den Vorschlag einer „doppelten“ Haltelinie eines Rentenniveaus von 48 Prozent und eines Beitragssatzes von 22 Prozent. Leider gehen die parteiinternen Berechnungen nur bis 2030 und beziffern den zusätzlichen Steuerzuschuß mit 15 Milliarden Euro. Nach einem Prognos-Gutachten würde dieser Zuschuß ab 2045 auf 125 Milliarden Euro jährlich steigen. Dagegen erscheinen die Zusatzkosten des CSU-Vorschlags einer Mütterrente II mit einem dritten Rentenpunkt für die vor 1992 geborenen Kinder mit sieben Milliarden Euro jährlich geradezu spartanisch. „Jamaika“ plante in der Sondierungsrunde zu den Sozialkassen zusätzliche Ausgaben des Bundes und der Beitragszahler in Höhe von circa 27 Milliarden Euro. Davon entfielen 19 Milliarden Euro (70 Prozent) auf Ausgaben der Renten- und Pflegeversicherung (FAZ, 11. November).

Die Demographie stellt unsere parlamentarische Demokratie vor eine große Herausforderung. Langfristig dürfte neben dem „Links-Rechts-Schema“ zukünftig eine Dimension „Jung-Alt“ in die Parteienlandschaft einkehren. Welche Antworten wären hierauf denkbar? Wiederholt wird das sogenannte Elternwahlrecht ins Gespräch gebracht. Eltern sollen das Wahlrecht für ihre minderjährigen Kinder wahrnehmen können. Abgesehen davon, daß gegen den fundamentalen Gleichheitsgrundsatz verstoßen würde, gibt es Probleme bei getrenntem Sorgerecht oder unterschiedlicher Nationalität. Werden die Kindsinteressen zudem tatsächlich von den Eltern vertreten? Auch aus diesen Gründen wurde der Vorschlag parteiübergreifend abgelehnt.

Eine Senkung des Wahl­alters auf 16 Jahre, wie in acht Bundesländern bei Kommunalwahlen schon die Praxis, würde insbesondere im Interesse der Grünen, der FDP und der Linken liegen, die unter den Erstwählern überproportional abschneiden. Die Einführung einer Wahlpflicht, wie sie beispielsweise in Italien, Belgien, Griechenland, Luxemburg und Australien besteht, widerspricht den Prinzipien einer liberalen Demokratie. Denn mangels politischer Alternativen zählt auch die Wahl­enthaltung als Votum eines Protests. Nicht zuletzt wird als ein Grund für eine wieder ansteigende Wahlbeteiligung die AfD angesehen. Zudem dürfte ein sanktionsloser Zwang wie in Griechenland kaum Änderungen bewirken.

Schließlich könnte das e-Voting eine geeignete Möglichkeit bieten, die Jungen hinter ihrem Smartphone hervorzulocken und deren Wahlbeteiligung zu steigern. Notfalls bleibt der jungen Generation jedoch die Verweigerung und die „Abstimmung mit den Füßen“: Rückzug in die Schattenwirtschaft und Auswanderung in demographisch jüngere Gesellschaften.






Prof. Dr. Dirk Meyer, Jahrgang 1957, lehrt Ordnungsöko­nomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit den Forschungsschwerpunkten Euro, Wettbewerbs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Auf dem Forum diskutierte er zuletzt das Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone („Der Grexit ist machbar“, JF 9/15).

Foto: Wer über den Wahlausgang entscheidet: Bei der letzten Bundestagswahl war die Hälfte der Wähler älter als 55 Jahre. Das hat Folgen für die Politik.