© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/17 / 08. Dezember 2017

Die Völker hören andere Signale
Krise der Sozialdemokratie in Europa: Daß die Bindungskraft von Volksparteien allgemein nachläßt, erklärt den Niedergang der Arbeiterparteien nur unzureichend
Michael Paulwitz

Für Europas Sozialdemokraten war 2017 ein Katastrophenjahr. Bei den Parlamentswahlen in Frankreich und den Niederlanden zu Splitterparteien degradiert, der sozialistische Kandidat in den französischen Präsidentenwahlen mit einem einstelligen Ergebnis gedemütigt, in Österreich nach langjährigem Quasi-Abonnement die Kanzlerschaft verloren, und Deutschlands SPD-Chef Martin Schulz landete statt im Kanzleramt mit dem schlechtesten Ergebnis der Parteigeschichte auf dem Bauch. Der Niedergang der europäischen Sozialdemokratie ist vom Trend zur Tatsache geworden.

Von der „sozialdemokratischen Renaissance“, die Parteistrategen und wohlwollende Kommentatoren noch zu Beginn des Jahrhunderts ausgerufen hatten, ist wenig bis nichts übriggeblieben. Im Jahr 2000 wurden noch zehn der damals 15 EU-Mitgliedstaaten sozialdemokratisch geführt, darunter Schwergewichte wie Deutschland.

Nur sechs aus 28 werden sozialdemokratisch regiert

Heute haben noch sechs der 28 und demnächst nur 27 EU-Staaten einen sozialdemokratischen Regierungschef. Fast alle darunter sind kleinere oder periphere Staaten – Malta, Portugal, Rumänien, Schweden und die Slowakei – mit Ausnahme Italiens, wo der frühere Sozialdemokrat Matteo Renzi allerdings kaum Aussichten hat, im nächsten Jahr den Ministerpräsidentensessel zu verteidigen.

Das sozialdemokratische Jahrzehnt der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, als Willy Brandt in Bonn, Bruno Kreisky in Wien, Olof Palme in Stockholm und Gro Harlem Brundtland in Oslo in der europäischen Politik den Ton angaben, ist erst recht nur noch ferne Erinnerung. Bereits zu Anfang der Achtziger kursierte die Rede vom „Ende der sozialdemokratischen Epoche“, als die Wahl­erfolge von Ronald Reagan in den USA und von Margaret Thatcher in Großbritannien in den westlichen Demokratien eine Wende zu christ­demokratisch und konservativ geführten Regierungen einzuläuten schienen.

Daß im Schatten des Wahlsieges des US-Demokraten Bill Clinton 1992 auch in Europa mit Tony Blairs „New Labour“ im Vereinigten Königreich und mit Gerhard Schröder im wiedervereinigten Deutschland abermals die Stunde einer erneuerten und an der gesellschaftlichen „Mitte“ orientierten Sozialdemokratie zu schlagen schien, erwies sich als kurzlebige Scheinblüte.

Nach der Eroberung des Weißen Hauses durch den scheinbaren Außenseiter Donald Trump, die am Beginn des „Annus horribilis“ der europäischen Sozialdemokraten stand, war unübersehbar, daß mehr ins Rutschen geraten war als nur Wahlergebnisse.

Auch dieses letzte Menetekel von jenseits des Atlantik, das sich allen verzweifelten Bemühungen zum Trotz nicht einfach wegbeschwören läßt, ist nicht Ursache und Auslöser, sondern Indikator der Veränderung. Und es ist nicht der erste. Bereits die 1999 geschlossene erste schwarz-blaue Koalition in Österreich war ein deutlicher Warnschuß, auf den die damals noch mehrheitlich sozialdemokratische EU mit oberflächlichen und letztlich vergeblichen Isolationsreflexen antwortete, statt nach den Ursachen des sich abzeichnenden Wandels zu fragen.

Daß die Bindungskraft großer Parteien, sogenannter „Volksparteien“, seit Jahrzehnten im Schwinden ist, weil sich traditionelle Milieus auflösen, die sie bislang getragen haben, erklärt die beispiellose Serie des Niedergangs sozialdemokratischer Parteien in ganz Europa, von Nord bis Süd und von West bis Ost, nur zum Teil.

SPD-Chef Martin Schulz ist mit seinem historischen Absturz auf 20,5 Prozent in der vergangenen Bundestagswahl fast noch der Einäugige unter den Blinden. Die sozialistische Arbeiterpartei Spaniens landete bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2016 auf einem ähnlichen Niveau: 22,7 Prozent sind auch für sie das zweitschlechteste Ergebnis der immerhin 140jährigen Parteigeschichte und ein tiefer Fall seit den achtziger Jahren, als Spaniens Sozialisten noch an der 50-Prozent-Marke kratzten. Ihre Wähler haben sie vor allem an die linksradikale Protestpartei Podemos verloren, die fast gleich stark wurde.

Noch dramatischer die Entwicklung in Griechenland, wo der Niedergang der Sozialisten dem Trend seinen Namen gegeben hat: Von „Pasokifizierung“ sprechen Politikwissenschaftler, wenn sie die Atomisierung traditioneller Großparteien durch neue Wählerbewegungen beschreiben, seit im September 2015 die Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) auf 6,3 Prozent in die Bedeutungslosigkeit abstürzte – nachdem sie sich als Familienbetrieb der Papandreou-Dynastie jahrzehntelang mit der konservativen Nea Dimokratia an der Macht abwechselte und 2009 noch 43,9 Prozent der Wähler gewann. Daß die kometenhaft aufgestiegene linksradikale Protestbewegung Syriza, die im Wahlkampf noch gegen Korruption und Vetternwirtschaft der Traditionsparteien angetreten war, längst ihr eigenes Klientelsystem zu errichten beginnt, macht aus dem Umbruch freilich eher eine Wachablösung.

Während in den mediterranen Euro-Krisenstaaten in erster Linie die Auswirkungen von Finanzkrise und Euro-Rettungspolitik die fest mit den EU-Eliten verwobenen Sozialisten und Sozialdemokraten delegitimiert, sind es in der Mitte und im Norden Europas vor allem die gesellschaftlichen Umwälzungen durch Massenmigration und Islamisierung, die auch die Parteienlandschaften in Bewegung bringen.

In Frankreich hat der euro-, islam- und einwanderungskritische „Front National“ das politische Koordinatensystem deutlich nach rechts verschoben, auch wenn er aufgrund des Mehrheitswahlrechts in der Nationalversammlung weiterhin kaum vertreten ist. Rettungsboot der alten Eliten ist die „En Marche“-Bewegung des neuen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, die sich stärker zur wirtschaftsliberalen Mitte orientiert und die ideologisch erstarrten Sozialisten und die radikale Linke marginalisiert.

Die niederländische Partei der Arbeit (PvdA) ist sogar noch tiefer gefallen als Griechenlands Pasok; sie verlor drei Viertel ihrer Wähler und holte dieses Jahr nur noch 5,7 Prozent, während die islamkritische Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders mit über 13 Prozent zur zweitstärksten Kraft wurde.

Im von der Finanzkrise schwer gebeutelten Irland verlor die dortige Labour-Partei 2016 mehr als vier Fünftel ihrer Sitze und stellt nur noch sieben Abgeordnete. Und Großbritanniens „New Labour“ verlor die Macht nicht zuletzt wegen ihrer aggressiven Einwanderungspolitik, die auf Bevölkerungs- und Wähleraustausch zielte; die Schwäche der Tory-Regierung nach dem Brexit-Beschluß und das Mehrheitswahlrecht verschafft der nach links gerückten Labour Party eine Verschnaufpause.

Auch in den Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens bewegen sich die einst dominierenden Sozialdemokraten nur noch im Mittelfeld. In Dänemark und Norwegen kann ohne die Dänische Volkspartei und die Fortschrittspartei, beide aus ursprünglichen Steuerzahler-Protestbewegungen hervorgegangene einwanderungskritische neue Parteien, nicht mehr regiert werden; im noch sozialdemokratisch regierten Schweden wachsen die rechten Schwedendemokraten trotz massiver Repression weiter an, die SAP erzielte mit 31 Prozent indes das zweitschlechteste Ergebnis der Parteigeschichte.

Vollends diskreditiert scheinen die meist aus den alten kommunistischen Staatsparteien hervorgegangenen Sozialdemokraten in Osteuropa. Die tschechische CSSD wurde nach dem 30-Prozent-Erfolg der „ANO“-Bewegung des Milliardärs und Ex-Kommunisten Andrej Babiš bei den Parlamentswahlen 2017 auf 7,3 Prozent fast gedrittelt, im polnischen Sejm sitzt seit 2015 keine einzige Linkspartei mehr, seit auch die postkommunistische SLD, die 2001 noch mit einem Linksbündnis die Regierung stellte, an der Sperrklausel gescheitert ist.

Schulterschluß mit        Linksintellektuellen

„Rechtspopulistische Parteien“ seien „die neuen Arbeiterparteien“, konstatierte kürzlich der Berner Politikwissenschaftler Klaus Armingeon im Schweizer Rundfunk. Wähleranalysen der Erfolge nicht nur der österreichischen FPÖ oder der AfD in Deutschland untermauern den Befund. Zugleich relativieren die Wählerwanderungen die gängige Erklärung, sozialdemokratische Parteien seien deshalb im Niedergang, weil die „traditionellen Arbeitermilieus“ geschrumpft und weggebrochen seien.

Die Malocher-Regionen der Schwerindustriegebiete im Ruhrgebiet, in Frankreich, Belgien oder England mag es tatsächlich nicht mehr geben; sozialdemokratische Wähler existieren sehr wohl noch, sie haben sich nur gewandelt und ausdifferenziert. Der SPD-Europa­abgeordnete Jakob von Weizsäcker nennt sie, im Gegensatz zur „ultramobilen“ Schicht der Globalisierungsprofiteure, die „Verorteten“ – Leute, die im selben Umfeld aufwachsen, ihre Ausbildung machen, arbeiten, Familien gründen und in Rente gehen.

Diese Mittelschicht, die sich – durchaus ein Erfolg sozialdemokratischer Politik der Nachkriegsjahrzehnte – in den europäischen Ländern etabliert hat, fühlt sich von der Sozialdemokratie zunehmend verraten. Denn es handelt sich um Menschen mit gesellschaftlich sozial­konservativem Wertesystem, die mit internationalistischen linken Ideologien wenig anfangen können.

Der Keim der Entfremdung liegt schon im „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ der siebziger Jahre, als sozialdemokratische Führungsfiguren wie Willy Brandt und Olof Palme den Schulterschluß mit den Linksintellektuellen suchten und sich Weltbeglückungsphantasien hingaben. Euro- und Migrationskrise haben den Widerspruch so zugespitzt, daß er sich nicht mehr mit gesteigerter Umverteilung übertünchen läßt.

Denn Migranten-, Asyl- und Einwanderungslobbyismus und Interessenvertretung für sozialdemokratische Wähler schließen sich aus. Randgruppenverhätschelung von der Homo-Lobby bis zu den Gender-Klempnern ist für die Mittelschicht kein Herzensanliegen, und vom EU- und Globalisierungs-Internationalismus sieht sie ihren erarbeiteten Wohlstand bedroht. Nicht der eigene Erfolg, der auch die Gesellschaften und die Konkurrenzparteien sozialdemokratisiert hat, bedroht das „Geschäftsmodell“ der Sozialdemokraten, sondern ihre grünlinke, neosozialistische Ideologisierung.

Der wohlfeile Rat linksintellektueller Meinungsmacher, die Sozialdemokraten müßten sich „offensiv“ mit den „Rechtspopulisten“ auseinandersetzen, statt ihnen „nachzulaufen“, ist daher vergiftet: Es ist der Aufruf zum fortgesetzten Kampf gegen die eigene, von oben herab gern als „Abgehängte“ abqualifizierte und für dumm gehaltene Wählerschaft.

Die noch erfolgreichen Sozialdemokraten in Europa ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse. Österreichs SPÖ hat sich durch eine Kehrtwende in der Asylpolitik vor dem Totalabsturz bewahrt und hält sich die Koalitionsoption mit der FPÖ offen. Der heutige slowakische Ministerpräsident, Ex- und Postkommunist Robert Fico läßt sich in Sachen Einwanderungs- und Islamkritik von keinem „Rechtspopulisten“ überbieten.

Das im Migrationschaos versinkende Schweden sträubt sich dagegen mit quasi-totalitären Denk-, Sprech- und Kontaktverboten gegen die Realität. SPD-Politiker wie der zensurbesessene amtierende Bundesjustizminister Heiko Maas haben offenkundig hier ihr Vorbild gefunden. Ein Erfolgsrezept ist das mit Sicherheit nicht.

Foto: Von der einst stolz geballten Faust der „Sozen“ ist nicht viel übriggeblieben: Eine Politik der offenen Grenzen mit Masseneinwanderung  und Randgruppenlobbyismus zu betreiben und  den Sozialstaat erhalten zu wollen, schließt sich gegenseitig aus