© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

„... und Amri wahrscheinlich Täter sein will“
Jahrestag: Der islamistische Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 offenbart immer neue Behördenfehler
Felix Krautkrämer

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Pannen und Versäumnisse deutscher Sicherheitsbehörden im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters Anis Amri bekannt werden. Immer drängender wird die Frage, wie der als Gefährder eingestufte Tunesier trotz Polizeiüberwachung den bislang folgenschwersten islamischen Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik begehen konnte. Vieles deutet darauf hin, daß sich neben dem Berliner Abgeordnetenhaus und dem Landtag von Nordrhein-Westfalen auch bald im Bundestag ein Untersuchungsausschuß mit dem „Fall Amri“ beschäftigen wird, denn auch führende Unions-Politiker sprechen sich mittlerweile für ein solches Gremium aus. Nicht ohne Grund. 

Verfassungsschutz, Landeskriminalämter, Bundesanwaltschaft – sie alle wußten bereits ein knappes Jahr vor dem Anschlag auf den Weihnachtmarkt, wie gefährlich Amri war. Schon bald nach seiner Einreise im Sommer 2015 war der Tunesier in islamistischen Kreisen aufgetaucht und so ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten. Seine Observierung ergab, daß er mindestens acht verschiedene Identitäten in Deutschland verwendete, mit denen er auch mehrfach unberechtigt Sozialleistungen erhielt. Die Überwachung seines Handys und seines Surfverhaltens zeigte, daß er sich im Internet auf Dschihadisten-Seiten über den Bau von Sprengsätzen informierte. Ermittler zeichneten Chats auf, in denen sich Amri mit zwei mutmaßlichen Mitgliedern des IS in Libyen unterhielt. Laut Abhörprotokoll fragte Amri am 2. Februar, ob sie jemanden in Deutschland kennen würden, „der eine Schwester hat und die heiraten will, dann mach mir mit ihm Kontakt“ – möglicherweise eine Tarnbezeichnung für einen geplanten Anschlag. Als seine Chatpartner in Libyen nicht verstanden und nachfragten, was er damit meine, wurde Amri deutlich und schickte nur ein einzelnes Wort: „Dougma“ – das in der Islamistenszene verwendete Synonym für Selbstmord-Attentäter.

Amri konnte sich ungehindert bewegen

Nun verstanden seine Kontaktleute in Libyen und instruierten ihn, zu einem Kontaktmann („zuständigen Bruder“) zu gehen und ihm zu sagen, „daß du der Religion Gottes dienen willst“. Die Anweisungen endeten mit der Hoffnung: „Möge Gott von dir annehmen und möge Gott uns im Paradies vereinen. Möge Gott uns benutzen und nicht auswechseln.“ Amri antwortete darauf mit „So Gott will“. 

Ein alarmierter Hauptkommissar im LKA Nordrhein-Westfalen schrieb danach in die Akten: „Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Anis Amri sehr wahrscheinlich nicht nur direkte Kontakte zum sogenannten ‘Islamischen Staat’ unterhält, sondern offenbar von einem derer Mitglieder direkt und persönlich instruiert wird, einen nicht bekannten Tatplan in Deutschland in die Tat umzusetzen.“ Und weiter: „Nach bisheriger Bewertung des Gesprächsverlaufs muß angenommen werden, daß in diesem Chat ein Selbstmordattentat Gesprächsinhalt ist und Amri wahrscheinlich Täter sein will.“ Trotzdem konnte sich Amri in den folgenden Monaten ungehindert in Deutschland bewegen und weiter radikalisieren. Auch zu dem islamistischen Prediger Abu Walaa aus Hildesheim hatte Amri Kontakt. 

Der 1985 geborene Iraker, der mit bürgerlichem Namen Ahmad Abdulaziz Abdullah A. heißt, galt bis zu seiner Verhaftung 2016 als zentrale Führungsfigur des IS in Deutschland. Zeitweise soll die Terrormiliz hierzulande nichts ohne seine Zustimmung unternommen haben. Momentan muß sich der frühere Asylbewerber vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Celle wegen der Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ verantworten. Er war auf Anweisung des Generalbundesanwalts im September 2016 nach seiner Rückkehr aus Syrien festgenommen worden. 

Jüngsten Recherchen des Focus zufolge soll Abu Walaa Amri in einer Hildesheimer Moschee persönlich gesegnet haben. In Telefonaten habe sich Amri danach als „Emir der Abu-Walaa-Brigade“ gebrüstet. Nach Informationen des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) verfügte das LKA NRW zudem über einen V-Mann im Umfeld Abu Walaas: Der Spitzel mit dem Decknamen „Murat“ soll Amri zu Anschlägen angestachelt haben. Es sei sogar von einem möglichen Lkw-Attentat die Rede gewesen. Dennoch sahen die Behörden keinen Grund, Amri zu stoppen und beispielsweise in Abschiebegewahrsam zu nehmen. 

Die Fahnder wußten durch Überwachungsmaßnahmen zudem, daß sich Amri Ende 2015 in Berlin gelegentlich bei einer Flüchtlingshelferin aufhielt. Auf die Idee, die Frau zu vernehmen, kamen die Beamten des Staatsschutzes jedoch nicht. Sonst hätten sie von ihr erfahren, daß Amri mehrere Identitäten und Handynummern nutzte, sich streng religiös gab und aggressiv verhielt, weshalb sie die Verbindung zu ihm abbrach. 

Möglicher Mitwisser       wurde abgeschoben

Doch die Pannenserie der Ermittler endete nicht mit dem Anschlag am 19. Dezember 2016. Auch danach kam es zu weiteren, teils erheblichen Versäumnissen. So wurde erst drei Stunden nach dem Attentat von der Berliner Polizei eine Überprüfung und Verbleibkontrolle („Maßnahme 300“) sämtlicher bekannter Gefährder und relevanter Islamisten veranlaßt. Dabei lag es nahe, daß ein möglicher islamischer Attentäter auf der Flucht Kontakt zu Bekannten und Helfern aufnehmen könnte. 

Ein weiterer Vorgang wirft ebenfalls Fragen auf. Amri war laut Observierungs-Protokollen eng mit dem Tunesier Bilal Ben Ammar befreundet. Mit ihm traf er sich am Abend vor dem Anschlag in einem arabischen Restaurant. Einen Tag später, nur wenige Stunden vor der Tat, telefonierten Amri und Ammar, den die Behörden ebenfalls als islamistischen Gefährder einstuften und sogar für gefährlicher als Amri hielten, noch ein letztes Mal. Nach dem Anschlag entdeckten Ermittler laut RBB und Focus auf Ammars Handy Fotos, auf denen genau die Stelle des Breitscheidplatzes zu sehen war, an der Amri mit dem Lkw zugeschlagen hatte. Allerdings waren die Bilder ein dreiviertel Jahr vor dem Anschlag aufgenommen worden. Dies könnte darauf hindeuten, daß Ammar in die Planung der Tat eingeweiht war. Doch anstatt ihn diesbezüglich zu verhören, wurde der Tunesier mit Billigung des Generalbundesanwalts am 1. Februar 2017 in seine Heimat abgeschoben. 

Dabei hätte Ammar den Ermittlern möglicherweise weitere wichtige Informationen über Amri und dessen Kontaktmänner in Deutschland geben können. Denn laut einem Schreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz an das LKA Berlin, das der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, war Amri 2015 gemeinsam mit Ben Ammar über Italien nach Deutschland eingereist und habe sich überwiegend in Berlin sowie in Hildesheim, Oberhausen, Duisburg, Emmerich und Freiburg aufgehalten. 

Das Dokument trägt die Unterschrift von Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und warnt, Amri versuche „offensiv, Personen als Beteiligte an islamistisch motivierten Anschlägen im Bundesgebiet zu gewinnen“. Er plane, über die französische Islamistenszene an Schnellfeuergewehre des Typs AK-47 zu gelangen und wolle zur Finanzierung der Waffen mit anderen Personen Einbrüche in Berlin begehen. Datiert ist das Schreiben des Verfassungsschutzes auf den 26. Januar 2016 – elf Monate vor dem Anschlag vom Breitscheidplatz.