© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/17 / 15. Dezember 2017

Es ist nicht mehr so wie früher
Reportage vom Berliner Breitscheidplatz, ein Jahr danach: Große Enttäuschung über das Verhalten der Politik
Martina Meckelein

Ein islamistischer Terrorist, zwölf Ermordete, rund 70 Verletzte: Das ist die schreckliche Bilanz des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember vor einem Jahr in Berlin. Genauso verstörend ist allerdings, was in den Monaten danach offenbar wurde: Schlamperei, Selbstüberschätzung, Vertuschung und eine abgrundtiefe Kaltherzigkeit des Staates. Ein Jahr später: Wie geht es den Händlern auf dem Weihnachtsmarkt, den Opfern des Islam-Terrors?

Breitscheidplatz, morgens um 9.30 Uhr. Rund 200 festlich geschmückte Buden stehen auf dem „City-Weihnachtsmarkt“ entlang der Gedächtniskirche. In eineinhalb Stunden öffnen die kleinen Hütten. Dann wird es nach gebrannten Mandeln, Currywurst und Glühwein duften.

„Nach dem Anschlag kam kein Politiker zu uns“

Eigentlich wirkt alles so normal – aber normal ist hier nichts. An den Eingängen zum 34. Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz erschweren versetzt angeordnete Betonsperren, wie sie sonst als Leitsystem an Autobahnen verwendet werden, den Zugang. Diese und die „Nizza-Sperren“ getauften, mehr als zwei Tonnen schweren Betonklötze sichern zum ersten Mal in Deutschland die Vorweihnachtszeit. Auffällig parken an den Straßen blau-weiße Gruppenkraftwagen der Polizei. Doch ist das nur vorgegaugelte Sicherheit? Die Autobahn-Betonwände gelten zwar als sicherer als die legoartigen Betonklötze. Ob sie einen heranrasenden Laster wirklich würden aufhalten können, ist zweifelhaft.

Der MDR sendete im April 2017 eine Reportage über den Nutzen der Nizza-Sperren – so benannt nach dem Anschlag von Nizza, bei dem ein islamischer Terrorist im Juli 2016 mit einem Lkw 86 Menschen ermordete und in dessen Folge die Bundesregierung ein neues Sicherheitskonzept zur Terrorabwehr entwickelte. Die Dekra ließ in verschiedenen Konstellationen mit zehn Tonnen beladene Lastwagen gegen eine Reihung der Betonklötze fahren – mit 50 Stundenkilometern Geschwindigkeit. Die Lkw katapultierten die 2,4 Tonnen schweren Poller mühelos aus dem Weg. Das Fazit von Marcus Gärtner, dem Dekra-Projektleiter Crashtest: Die Sperre „ist wahrscheinlich mehr so eine Kopfsache, so eine Beruhigung für den Besucher“. Jedoch kosten diese Potemkinschen Dörfer, die den Terror, die Toten und Verletzten nicht verhindern können, viel Geld. Den Ausrichtern der Märkte und unterm Strich den Steuerzahler.

Ibrahim Forna betreibt in Berlin einen T-Shirt- und Hoody-Laden. Er war 2016 ebenfalls auf dem Breitscheidplatz mit einem Stand. „Vergangenes Jahr waren es noch 9.500 Euro, jetzt zahle ich 10.491 Euro Standmiete für vier Wochen“, sagt er.

„Nennen Sie bitte nicht meinen Namen“, sagt eine junge Händlerin, „und auch nicht meinen Stand, sonst kriege ich Ärger.“ Ärger, mit wem? Sie zuckt die Schultern, dann: „Mit der Stadt. Die Stände sind begehrt.“ Rund 2.000 Euro Standkosten mehr als im Vorjahr, sagt sie, muß sie für ihre Stände dieses Jahr berappen. Sie war vor einem Jahr, am 19. Dezember, auf dem Breitscheidplatz, als der Attentäter Anis Amri mit dem Sattelschlepper gezielt in die Besuchermenge raste. „Ich war hier an diesem Stand. Meine Freundin stand vorne an der Gedächtniskirche. Plötzlich klingelte mein Handy. Meine Freundin war dran. Sie schrie ins Handy: ‘Hier sind Schüsse, die Leute rennen weg.’ Ich sagte ihr noch, daß ich nichts mitbekomme. Sie sagte, ich solle durch die Hintertür aus meinem Laden schauen. Da sah ich die Leute auf mich zurennen. Weg von der Seite der Straße, hin zu unseren Ständen im Inneren des Marktes.“ Die junge Händlerin lief ebenfalls weg. „Tote habe ich nicht gesehen. Da lagen nur viele Leute auf dem Boden, aber die bewegten sich noch. Überall war Blut. Später hieß es, daß es nur ausgegossener Glühwein war – ich hoffe es. Was da wirklich passiert ist, habe ich erst nachts, als ich den Fernseher anschaltete, verstanden.“

Es ist 20.02 Uhr, als Amri die durch einen Raubmord an sich gebrachte schwarze Scania-R-450-Zugmaschine mit Sattelauflieger in eine Gasse des Weihnachtsmarkts steuert – mit 25 Tonnen Stahlteilen beladen, vermutlich 60 Stundenkilometer schnell. Auf dem Beifahrersitz des Führerhauses der sterbende oder schon tote polnische Lasterfahrer Lukasz Urban aus dem Örtchen Rosenfelde (Roznowo) südlich Stettin. An die 70 Menschen mäht Amri auf 80 Metern nieder. Was er nicht weiß: Das Fahrzeug ist mit einem Notbrems­assistenten ausgerüstet, das den Laster bei Unfällen automatisch abbremst. So bricht die Zugmaschine nach links aus und kommt zum Stehen. Der Islamist, den Behörden als Top-Gefährder bekannt, flüchtet nach Italien. Am 23. Dezember zieht Amri bei einer nächtlichen Polizeikontrolle nördlich Mailand sofort eine Pistole aus dem Rucksack (wie später ermittelt, ist es dieselbe, mit der er Urban ermordete) und schießt auf die Beamten. In Notwehr wird Amri erschossen.

Drei Tage war der Weihnachtsmarkt damals geschlossen. „Doch nach dem Anschlag kam kein Polizeibeamter, kein Politiker und auch kein Psychiater zu uns“, erzählt die junge Händlerin. „Niemand fragte uns, wie es uns geht. Nur unsere Stammkunden und Journalisten.“

Entschädigungszahlungen sind noch nicht abgearbeitet

Und in diesem Jahr? „Noch ein paar Journalisten fragen, aber das Interesse nimmt doch ab. Es scheint alles irgendwie Normalität zu sein, das mit dem Terror. Und den Schutz dagegen, den zahlen wir. Ist doch verrückt, oder?“

Der Schutz kostet auf dem Breitscheidplatz rund 50.000 Euro, bestätigt eine Sprecherin der Eckel-Presseagentur, die für den Schaustellerverband arbeitet, der JUNGEN FREIHEIT. Auch daß die Standmieten in diesem Jahr um 20 Prozent erhöht wurden, bestätigt die Frau. „Aber den Schaustellern wurde Unterstützung vom Senat zugesagt.“ Doch wann der Senat etwas beschließt, ist unklar. Wobei dieser im Zugzwang ist. Hatte doch der Betreiber des Weihnachtsmarktes vor dem Charlottenburger Schloß in Berlin gegen die Kosten für die Sicherheitspoller geklagt. Der Tagesspiegel berichtete, daß das Berliner Verwaltungsgericht eindeutig die Position des Weihnachtsmarktbetreibers unterstütze: Der „Schutz vor Terroranschlägen“ obliege „nicht dem Veranstalter“. Bezirk oder Land müßten zahlen.

Am 19. Dezember, dem ersten Jahrestag des Terroranschlags, wird der Markt den ganzen Tag über geschlossen sein. Dann wird die offizielle Gedenkstätte „Der Riß“ im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeweiht. „Wenn das die Entscheidung der Politik ist, schließen wir selbstverständlich“, sagt Forna. „Aber für den Tag hätten wir uns schon einen Erlaß der Standmieten gewünscht.“ Härtere Worte findet die junge Händlerin für das Vorgehen der Stadt: „Wo sind denn Fotos der Opfer? Wo sind ihre Namen? Warum spricht niemand über sie? Die Politiker interessiert das doch gar nicht.“

Und damit trifft sie einen der Vorwürfe, die Opfer und Hinterbliebene in einem offenen Brief zu Monatsbeginn an die Bundeskanzlerin formuliert hatten. Sie werfen ihr vor, daß der Anschlag am Breitscheidplatz „auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit Ihrer Bundesregierung“ sei. Außerdem, daß die Kanzlerin weder persönlich noch schriftlich den Opfern und Angehörigen kondoliert habe. Nach dem Bekanntwerden des Briefes versicherte ein Sprecher, Merkel wolle sich am 18. Dezember mit Angehörigen der Todesopfer und Verletzten im Kanzleramt treffen. Einen Tag also vor dem Gedenken, das der Berliner Senat plant.

Unterdessen werden die Breitscheidplatz-Opfer über die Verkehrsopferhilfe entschädigt und nicht über das Opfer­entschädigungsgesetz. Grund: Das Opferentschädigungsgesetz gilt nicht für Anschläge, die mit einem Kraftfahrzeug begangen werden. Die Verkehrsopferhilfe stellt pro Schadensfall 7,5 Millionen Euro zur Verfügung. Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz wird als Schadensfall gewertet, nicht als Terroranschlag.

„Mindestens ein Verletzter liegt noch in der Klinik“, sagt Berlins Opferbeauftragter Roland Weber der jungen freiheit. „Vor kurzem wurde ich von ihm angerufen. Genaue Zahlen weiß allerdings kein Mensch. Das liegt daran, daß ich schon aus Datenschutzgründen die Betroffenen nicht anrufen darf. Sie müssen sich bei mir melden.“ Ein weiteres Opfer des Terroranschlags liege in einer Rehaklinik, „und von noch einem Opfer weiß ich, daß es noch vor ein paar Wochen in der Klinik war“. Auch die Zahlungen der Entschädigungen sind noch nicht abgearbeitet. „Die laufen noch, weil es bei vielen Betroffenen ja noch nicht klar ist, ob sie weitere Reha-Maßnahmen benötigen oder sie zum Beispiel dauerberentet werden.“

Auf die Frage, ob sie Angst habe, wieder vier Wochen auf dem Markt zu stehen, antwortet zum Abschluß die junge Händlerin: „Es kann uns doch heute überall treffen.“





Die Todespfer

Sebastian Berlin, 32, Deutschland

Christoph Herrlich, 40, Deutschland

Klaus Jakob, 65, Deutschland

Angelika Klösters, 65, Deutschland

Dorit Krebs, 53, Deutschland

Peter Volker, 73, USA

Anna Bagratuni, 44, Ukraine

Georgiy Bagratuni, 44, Ukraine

Nada Cižmárová, 34, Tschechei

Dalia Elyakim, 66, Israel

Fabrizia Di Lorenzo, 31, Italien

Lukasz Urban, 37, Polen